Frauengeschichte

Einer feministischen Heiligen auf der Spur

Die eine ist 1943 als katholische Ordensgründerin in Kolumbien gestorben und am 23. März vom Papst seliggesprochen worden. Die andere hat als heutige Feministin in St. Gallen gemeinsame Wurzeln entdeckt: Eine Begegnung mit Schwester Charitas Brader und Judith Thoma.
Dass sie dereinst mit dem Bild einer Ordensschwester am Kragen inmitten einer katholischen Fangemeinde auf dem Petersplatz eine Seligsprechung bejubeln würde, hätte Judith Thoma sich nie träumen lassen. Die 37-jährige St. Gallerin ist in einem Reisecar voll von entfernten Verwandten aus Kaltbrunn nach Rom gepilgert. Am 23. März hat der Papst die 1860 in Kaltbrunn geborene und 1943 als Gründerin der Missionsfranziskanerinnen von Maria Immakulata in Kolumbien verstorbene Schwester Charitas Brader seliggesprochen.
Historischer Brückenschlag

Auf den ersten Blick scheinen zwischen den beiden Frauen Welten zu liegen. Die verheiratete Kindergärtnerin und Anglistik-Studentin bezeichnet sich als Feministin, die mit Religion nicht viel am Hut hat. "Schon gar nicht mit dem Missionsgebaren im 19. Jahrhundert." Schwester Charitas folgte einzig ihrem Leitsatz: "Alles aus Liebe zu Gott und wie er es will". Entdeckt hat Thoma die Ordensfrau durch ihre Zweitweg-Matura-Arbeit über ihren Urgrossvater, Ludwig Thoma aus Kaltbrunn, dessen Patin Charitas Brader war. "In der Verwandtschaft verehrt man sie als Familienheilige. Aber wie sie lebte, weiss niemand." Thoma liess sich von ihr derart faszinieren, dass sie seit zwei Jahren in mühsamer Kleinarbeit ihre biographischen Details zusammenträgt. "Ich betrachte mich als Archäologin ihres Lebens".
Gesinnungsschwester entdeckt

Was Judith Thoma fesselt, ist das feministische Vorbild ihrer Urahnin: "Sie hat immer gewusst, was sie will, und unbeirrt ihr Ziel verfolgt". In ihrer Begeisterung lässt sich die Energie "und vielleicht die Sturheit" von Schwester Charitas erahnen. Mit zwanzig Jahren setzte sie durch, dass sie als einziges Kind ihrer verwitweten Mutter nach der Ausbildung zur Lehrerin ins Kloster Maria Hilf in Altstätten eintreten konnte. Acht Jahre später folgte sie dem Ruf eines Missionsbischofs und reiste zusammen mit der damaligen Oberin, der seligen Bernarda Bütler, und vier Schwestern nach Ecuador, wo sie sich der Bildung der armen Bevölkerung und der Mädchenförderung widmeten. 1893 gründete Schwester Charitas im heutigen Kolumbien den Missionsorden. Bis zu ihrem Tod entstanden zwischen Ecuador, Panama und New Mexiko 46 Filialen. Auf ihren Heimatbesuchen missionierte sie unter den Bauerntöchtern der Region. Als Judith Thoma einen Vortrag in Kaltbrunn hielt , erzählten ihr viele alte Leute von verwandten Ordensfrauen. "Ich musste meine Vorurteile von ‚verschupften' Nonnen endgültig revidieren. Auf den Fotos machten alle einen erfüllten Eindruck." Manchen mittellosen Frauen bot sich eine echte Lebensalternative mit Reisen und Bildung. Das Schloss Wartensee diente als Ausbildungsstätte für zukünftige Missionarinnen. "Damals hätte ich vielleicht auch so einen Weg gewählt", sagt Thoma. (Zwtl.) Handeln und beten In ihrem unermüdlichen Handeln schöpfte Schwester Charitas Kraft aus ihren starken spirituellen Wurzeln. "Ihre Religiosität kann ich schwer nachvollziehen", sagt Thoma. "Mich beeindruckt, welche Energie ein Glaube vermittelt." Schwester Charitas hat in Kolumbien, wo sie begraben ist, Heimat gefunden. "Sie konnte überall Wurzeln schlagen, weil sie diese in sich trug", meint Thoma. Ihr Urgrossvater Ludwig hingegen verzweifelte an seiner Heimatlosigkeit und nahm sich als 56-Jähriger das Leben. Heute gibt es weltweit rund 100 Ordensstationen. Trotzdem ist wenig über Schwester Charitas bekannt. In der Missionsprokura in Oberriet herrscht Stillschweigen. In Kaltbrunn weist einzig eine kürzlich angebrachte Tafel am Geburtshaus auf die Selige hin. Lebendig ist das Andenken - aus den zahlreichen Internet-Einträgen zu schliessen - in Südamerika. Auf der Homepage der Universität Pasto, die Schwester Charitas gegründet hatte, ist sie zusammen mit Jesus, Maria und Franz von Assisi als Pfeiler des christlichen Humanismus abgebildet. Auch in Kaltbrunn ist Thoma Leuten begegnet, die in der Not zu Schwester Charitas beten. Es muss gewirkt haben, denn für eine Seligsprechung ist ein bestätigtes Wunder nötig. Für Thoma besteht das Wunder in der Ausstrahlungskraft dieser Frau. "Ich sehe es als meine Aufgabe, ihr Leben sichtbar zu machen."

 

Autorin/Autor

 

Monika Slamanig, freie Journalistin, St. Gallen
Publikationsdatum 29.03.2003
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