Kultur

"Sag, dass es nicht wahr ist!“

Ein Stück für Jung und Alt. Ein Stück für NostalgikerInnen, Musical- und auch Schauspielbegeisterte. Dies bietet das Theater St. Gallen mit Willy Russells "Blutsbrüder“ in der Inszenierung von Direktor Josef E. Köpplinger. Prädikat: Sehenswert!
Anfang und Ende sind identisch, dazwischen liegt die Geschichte: Ein Schuss, zwei Menschen, die am Boden liegen. Es herrscht Spannung. Konsterniert steht das Volk um die beiden Toten herum. Eine Mutter singt: "Tell me, it's not true, tell me it's theatre“. Ein Lied das die Zuhörerschaft durch das ganze Programm hindurch immer wieder begleitet, zusammen mit weiteren Klageliedern, immer dann, wenn gesprochene Worte nicht mehr zu genügen vermögen. "Es ist nur ein lauter Schuss, genau wie im Kino. Alles ist nur Show, wie im Film mit Marilyn Monroe“, klagt die Mutter. Doch, was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr abgewendet werden. Da sind zwei Zwillingsbrüder die sich zu einander hingezogen fühlen. Blutsbrüder in Geist und Sinn. Und beide wissen sie nicht davon, dass sie Blutsbrüder im wahrsten Sinne des Wortes sind. Dies bis zu ihrem letzten Lebenstag. Hier müssen sie erfahren, dass sie dem Indianerspiel entwachsen sind und der Lauf der Welt bitter ist und ernst.


Die Story erzählt von der kinderreichen und bettelarmen Mrs. Johnstone, deren Mann sich für immer von ihr verabschiedet und nie mehr gesehen wird. "Ich gehe rasch Zigaretten holen“, wie er den Abgang nennt, bevor er hinter den Hausfassaden mit einer neuen Liebsten verschwindet. Als Mrs. Johnstone erfährt, dass sie Zwillinge erwartet, sieht sie keinen Weg, wie sie zwei weitere hungrige Mäuler stopfen soll. Mrs. Lyons, die Vorgesetzte, bei der sie putzt, profezeit ihr das Blaue vom Himmel, damit sie ihr einen der Zwillinge abgeben will. "Sie können ihn jeden Tag sehen, sich um ihn kümmern. Und er wird es gut haben und teure Schulen besuchen können“, verspricht sie der notleidenden Frau. Mrs. Johnstone entschliesst sich, eines der Kinder abzugeben: Mickey bleibt bei Mrs. Johnstone, Eddie kommt zu Mrs. Lyons und deren Ehenmann, welcher gerade lange genug auf Geschäftsreise war, um nichts von dem Schwindel mitzubekommen.


Doch, so verschieden die Knaben auch aufwachsen, sie finden sich. Da nützt es nichts, dass sich Mrs. Lyons bald schon von der leiblichen Mutter trennt, weil diese angeblich nicht mehr gute Arbeit leiste. Die siebenjährigen, ungleichen Brüder schwören sich Blutsbrüderschaft. "Das macht man, wenn man am gleichen Tag geboren ist“, weiss der schlaue und quirlige Mickey. Und Eddie liebt es, einen treuen und unternehmungsfreudigen Freund zu haben. Zusammen mit der gleichaltrigen Linda, in die sich später beide Freunde verlieben, verbringen sie eine schöne Kinderzeit, werden später zwar auseinandergerissen und kommen in den Jahren der Pubertät doch wieder zusammen. Zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, wo der arbeitslose und drogensüchtige Mickey, Eddies Erfolge, gerade auch bei seiner inzwischen angetrauten Ehefrau Linda, nicht mehr erträgt und ihn schliesslich erschiesst. Just nachdem er von seiner leiblichen Mutter eine Minute zuvor erfahren musste, dass sie Zwillingsbrüder sind.


Die Schauplatzwechsel gehen schnell und unkompliziert von statten. Hier wird eine Tür geöffnet, dort blitzschnell eine Mauer verschoben - und schon wird aus dem dunklen Hinterhof eine Wohnstube. Regisseur Josef E. Köpplinger versteht es, umstandslos die Szenen zu wechseln. Die Hintergrundmusik zum "Musical für Schauspieler - Blood Brothers“, wie Autor Willy Russel sein im Jahr 1983 uraufgeführtes Stück nennt, unterstreicht je nach Szene mit klagendem, seufzendem oder nur leicht unterstreichendem Sound. Die fünfköpfige Musik unter der Leitung von Jeff Frohner ist so live, wie sie auch das Stück belebt, ganz einbezogen in die Handlung, ob im Hinterhof, als Barmusik oder fast unsichtbar als Wohnzimmer-Background.


Die Dramaturgie wirkt lebensecht und führt den unaufhaltsamen Weg ins Verderben. Köpplinger versteht es dabei hervorragend, kein Gut-und-böse-Schema zu entwerfen. Der Regisseur bietet auch einen eindrücklichen Blick in die Zweiklassen-Gesellschaft Grossbritanniens. Ausstatter Martin Warth und Choreografin Ricarda Regina Ludigkeit tragen das ihre mit atmosphärischen Strassenszenen und Balletteinlagen bei. Und dennoch bleibt die Sozialkritik nebensächlich. Schuld am Lauf der Geschichte haben letztlich nicht die sozialen Unterschiede der beiden Brüder. Es ist die Lüge, welche die Akteure immer wieder einholt und schliesslich das Schicksal aller besiegelt.


Der stimmgewaltige Daniel Prohaska, tritt immer dann wieder auf, wenn die Handlung an Erklärungen bedarf, Kulissen zu verändern oder kleinere Rollen zu besetzen sind. Im Lied von den Schuhen auf dem Tisch, welche unwiderruflich Unglück verheissen, singt er vom Teufel des Schuldgefühls. Damit wird die am meisten gebeutelte "Looserin“ der Geschichte zur eigentlichen Schuldigen: Mrs. Johnstone, die Mutter. Sie wird von Dagmar Hellberg, welche die Bühne mit ihrer Präsenz zu jedem Zeitpunkt vollends erfüllt, hervorragend und lebensecht verkörpert. Schauspielerische Zwischentöne vermag Bruno Riedl dem überforderten und überarbeiteten Mr. Lyons zu geben. Der lebenslustige Mickey wird von Jens Schnarre und der linkische und überbehütete Eddie von Roman Schmelzer ebenso sympathisch und glaubwürdig gespielt. Yara Blümel steht als witzige Göre Linda zwischen den gegensätzlichen Blutsbrüdern. "Es isch hueregeil gschpielt gsi“, erklärte einer der auffallend zahlreichen jugendlichen Premierengäste seinen Freunden am Schluss. Man wolle in der Schule anregen, dass auch andere Klassen sich das Stück "hereinziehen können“.

 

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Publikationsdatum 30.05.2005
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