Kultur

Madame Tahiba, die weiße ärztin

Hedwig Mauthner (1872-1945) lebte viele Jahre in Meersburg am Bodensee - studiert hat sie in Zürich und in Straßburg. Danach führten sie ihre Reisen und ihre Tätigkeit als ärztin durch Afrika und Europa. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen hat sie literarisch verarbeitet und sich dabei stets für die Frauen eingesetzt und gegen einen eurozentristischen Blick Europas auf die Kulturen Afrikas und Arabiens verwehrt.
Die Anfänge

Geboren wurde Maria Hedwig Luitgardis Straub am 20. 1. 1872 in Emmendingen bei Freiburg im Breisgau. Elfjährig erlebt sie den Tod ihrer zärtlich geliebten Mutter und durchschaut bald die komplizierte Familienkonstellation. Eine Situation, die zum Umzug nach Berlin führt, wo Hedwig Bekanntschaft mit der bürgerlichen Frauen(bildungs)bewegung macht und die Gymnasialkurse der Helene Lange besucht. Beinahe wesentlicher als alles dies scheint in dieser Zeit das Hervortreten eines Charakterzuges, der sie fortwährend begleitet: Das Aufbegehren gegen Vereinnahmungen jeder Art, die konsequente Treue gegenüber sich selbst. Ausdruck davon ist die erste und nur einen Tag währende Ehe mit einem Dr. Sillers ...


Da den Frauen im Land der Dichter und Denker die Hochschulen erst ab 1895 offen stehen, zieht Hedwig zum Studium der Philosophie nach Zürich. Abermals weit davon entfernt, "einem Mann das Leben auszupolstern, einem Vater, Bruder, Gatten oder Geliebten", wie sie später in "Frauen - Emanzipation", einem der "Zerrissenen Briefe" (Hg. L. Lütkehaus, Kore Verlag 1990) schreibt, studiert die Straub anschließend in Paris Medizin, um dann zu einem nicht minder spektakulären Unternehmen aufzubrechen. Nach dem Staatsexamen ist sie als eine der ersten approbierten ärztinnen überhaupt, im Auftrag der französischen Regierung zehn Jahre tätig, "in der von Frankreich regierten Sahara bei Beduinen und Schwarzen; zwischen Timbuktu und Tunis, Algier und Tamanrasset. Dabei kümmert sie sich besonders um die Lebensverhältnisse der Frauen, deren kollektive Lebensformen hinter den Haremsgittern und Haremsvorhängen oder auch den Klostermauern des Patriarchats sie zugleich erforscht und bestärkt", wird ungefähr hundert Jahre später der Herausgeber ihres Werkes, Ludger Lütkehaus, diese Zeit beschreiben.
Reisen durch Afrika und Europa

Obschon in der Tat ein recht außergewöhnliches Unterfangen, dürfen wir uns "Madame Tahiba", die weiße ärztin, dennoch nicht als die erste und einzige orientreisende Europäerin denken. Im Zuge des einsetzenden Orienttourismus trat um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe auch deutschsprachiger Reisenden wie beispielsweise die österreicherinnen Ida Pfeiffer, Anna Hafner - Forneris, die Grazer Lehrerin Maria Schuber, die "Schweizer Amazone" Regula Engel und die Berliner Ida Gräfin Hahn - Hahn samt ihren literarischen Verarbeitungen in Erscheinung. Während sich aber viele der Geschlechtsgenossinnen in ihren Texten über die Monotonie der Wüste, über den Sand und Staub und Unannehmlichkeiten beklagen, nimmt Harriet Straub, wie sich die spätere Mauthner nennen wird, eine andere, eigene Sichtweise ein: "Ich lebe in der Unkultur? Menschenskind! Ist denn Kultur nur elektrisches Licht, Telephon und Luftschiffe? Das Andere, was wir bis jetzt Kultur nannten, das haben meine Wüstenbewohner - so kommt mir vor - mehr als die Herren Großstadtbewohner" und"Fünf Jahre bin ich jetzt hier, und ich habe noch keinen Tag ohne immer neues Entzücken gehabt. Ich möchte den Menschen mal hier haben, der von der ‘toten Wüste' spricht. Das ist das lebendigste, grausamste, schmeichlerischste, tobendste, bezauberndste Ungeheuer, das übermenschliche Phantasie sich vorstellen kann", so läßt sie zum ersten Mal im Jahre 1913 eine "Ruth" im ersten der "Zerrissenen Briefe", "Aus der Wüste" schreiben.


Ob nun die Ehe nicht für die Autorin obiger Zeilen oder jene nicht für die Ehe geschaffen ist, sei dahin gestellt. Tatsache ist, daß Hedwig Straub nach ihrem Aufenthalt in der französisch kolonisierten Sahara abermals das Wagnis der Heirat eingeht, diesmal mit dem irischen Adligen O'Cunningham. Auch diese zweite Eheschließung bleibt eine recht kurze Episode und allein im Namen der Autorin des 1909 als Manuskript gedruckten "Beutter - Büchlein" bleibt letztlich der Ehename sichtbar und quasi die Erinnerung für die Außen- und Nachwelt in dieser Form erhalten: Hedwig O'Cunningham.


Dem Reisen von Frauen wurde zwar mit moralischen Einwänden begegnet, deren traditionsreichste in der sittlichen Gefährdung und in der unkontrollierbaren sexuellen Freiheit bestanden. Dennoch ist die welt- und lebenserfahrene Medizinerin in den folgenden Jahren wenn schon in London, Stockholm und Kopenhagen, so doch wenigstens innerhalb der Grenzen des "zivilisierten" Europa anzutreffen. Im Jahre 1906 oder 1907 begegnet sie dann in Freiburg, wohin sie zur Vertiefung ihrer Medizinstudien und nach einer weiteren episodenhaften Ehe zurückgekehrt ist, dem fast sechzigjährigen Fritz Mauthner.
Meersburger Jahre

Mit ihm bezieht sie im Juli des Jahres 1909 das gemeinsame Heim im "Glaserhäusle" und der wilden Ehe wird bald darauf das Ende gesetzt. Für die weitgereiste Schriftstellerin und kritische Denkerin sind die Meersburger Jahre geprägt durch das gemeinsame Arbeitsleben, wobei die Eheleute Partner im Wortsinn sind und in beider Veröffentlichungen Spuren des jeweils anderen auszumachen sind. Dennoch meint die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn in ihrer Auseinandersetzung mit den schreibenden und befreundeten Paaren Hedwig und Gustav Landauer sowie den Mauthners für letztere einen männlichen überhang ausmachen zu können. So hat Hedwig Mauthner einen offenbar im Jahre 1915 begonnenen Roman vermutlich nie beendet und erst mit seinem Tod im Juni 1923 hört die Einbindung der Ehefrau in das Schreiben ihres Mannes auf. Interessanterweise ist es Hedwig Mauthner, die beim gemeinsamen Schaffen auf ein Pseudonym ausweicht und fortan mit Harriet Straub signiert. Ein weitreichender Schritt deshalb, weil damit auch immer die Gefahr der De-Identifikation von AutorIn und Werk einhergeht und sich die Frage auftut, in wessen Sinne dieser Akt wohl sein kann.


Das breite Spektrum ihrer literarischen Fähigkeiten kommt nicht zuletzt zum Ausdruck im Band "Wüstenabenteuer. Frauenleben", der eingeleitet wird von der in mehrlei Hinsicht bezaubernden Erzählung "Heiße Sonne" und eine der eindrucksvollsten Schilderungen nicht nur, so viel sei verraten, der Bodenseelandschaft enthält: "Der See glitzert und flimmert in der heißen Luft; ein Zittern huscht wie ein dunkler Schatten über seine seidig glänzende Oberfläche, immer wenn wieder vom Säntis her der Föhn über ihn hinwegstreicht, und leise anschlagend rauscht unten am Strand die Welle. Stumm arbeiten die Frauen in den Rebbergen, die mein Haus vom See trennen, in der schwülen Hitze des föhnigen Septembertages ist ihr heiteres Singen längst erloschen, und nur im trägen Takt der Gewohnheit schwingt die Hacke, die die Rebe von jedem Unkraut befreien soll. Ich liege im schattigen hundertjährigen Laubengang und lausche gedankenverloren in die große Stille hinein. - Das Rauschen der Blätter über mir klingt zusammen mit dem Rieseln der Kiesel unten am Strand, und meine Augen schließen sich, geblendet vor dem Flimmern des zitternden Sees. Und vor mir steigen längst vergangene Tage auf, ich höre das leise Rieseln des Sandes, wenn in der Wüste der Samum sich erhebt."


Im idyllischen Meersburg war das Leben dieser "geborenen Erzählerin", wie Hedwig Landauer ihre Freundin einmal nannte, aber auch durchzogen von dunklen und vor allem den braunen Schatten. Nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes zieht sie sich zurück, sitzt einem Betrüger auf, der eine Fritz-Mauthner-Akademie gründen will und gerät in finanzielle Not. Diese, aber auch die innere Not, verstärken sich angesichts der hereinbrechenden braunen Katastrophe: die Nazis entziehen ihr, weil mit einem Juden verheiratet, die Rente und erteilen ihr das Publikationsverbot in der "Vossischen Zeitung". Unterstützt wird sie in dieser letzten Phase ihres Lebens unter anderem von Gerhart Hauptmann und dem katholischen Pfarrer Wilhelm Restle. Am 20. Juni 1945 schließt diese ungewöhnliche Frau für immer ihre Augen und wird auf dem Meersburger Friedhof begraben - neben ihrem Mann und in der Nähe der Droste: "Bitte mich so in den Sarg zu legen, wie ich gerade bin. Nicht an mir herumwursteln, waschen etc. Für die Würmchen ist das alles Nebensache".

 

Autorin/Autor

 

Eva Grundl
Publikationsdatum 26.10.2005
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