Politik und Gesellschaft

"Mein grösster Wunsch: Alle Stimmberechtigten gehen wählen!"

Jessika Kehl-Lauff kandidiert als Parteilose für den neu zu besetzenden Ständeratssitz des Kantons Appenzell Ausserrhoden.  Im Gespräch mit ostschweizerinnen.ch erzählt Jessika Kehl über ihre Motive zur Kandidatur, über ihr politisches Credo, ihre Wahlschancen und über ihren grössten Wunsch für die Wahl am 8. Februar 2004.
Jessika, du hast dich entschlossen, für den freiwerdenden Sitz von Hans-Rudolf Merz im Ständerat zu kandidieren: Wie fühlst du dich?

Ja, im Moment ein wenig "überlastet“; ich bin am Samstag letzte Woche vom World Summit on the Information Society zurückgekommen und sollte nun eigentlich die entsprechenden Berichte auf Französisch, Deutsch und Englisch abfassen. Statt dessen stehe ich ganz unvermittelt mit beiden Füssen in einer Ständeratskandidatur.
Also, du hast ständig Termine, Telefonanrufe...

Ja, unglaublich viele Telefonate und E-Mails. Meine Mail-Box ist schon zweimal überlastet zusammengebrochen. Ich habe viele aufmunternde Mitteilungen bekommen. Und Anfragen von Zeitungen, Radio und Fernsehen. Es ist ein Riesenwirbel.
Aber du fühlst dich gut?

Ja, ja natürlich (lacht), ich liebe es, wenn etwas läuft. Ich habe zunächst mit meiner Familie über die Kandidatur sprechen müssen. Für die ist das ein ziemlicher Eingriff in ihre Freiheit, und das so kurz vor Weihnachten. Sie unterstützt mich jedoch voll.
Warum kandidierst du für den Ständerat?

Ich finde es sehr, sehr wichtig, dass die Wählerinnen und Wähler eine wirkliche Auswahl haben. Und natürlich soll auch eine Frau zur Wahl stehen; vor allem nach den Bundesratswahlen vom 10. Dezember: der Frauenanteil im Bundesrat ist ja stark gesunken, derjenige im Ständerat beträgt nicht mal mehr 25%. Ich finde, ich bin dies den Frauen, aber auch den Männern und Jugendlichen im Kanton schuldig.


Ich habe von Anfang an gesagt, ich kandidiere unter zwei Bedingungen: Zum einen kandidiere ich nur, wenn keine Frau von den Parteien aufgestellt wird oder parteilos kandidiert. Sollte eine andere, kompetente Frau kandidieren, werde ich meine Kandidatur zurückziehen. Diese müsste sich allerdings sputen: bis Ende Monat müssen die nicht amtlichen Wahlzettel gedruckt werden. Zum anderen habe ich die Bedingung gestellt, dass mich mindestens 100 stimmberechtigte Personen unterstützen.
Aber rechtlich wäre dies nicht nötig gewesen, ich meine die Unterstützung durch 100 Personen?

Ja, das ist richtig: Die 100 Unterschriften von Wahlberechtigten sind nur bei Proporz-Wahlen gesetzlich vorgeschrieben, und die Ständeratswahl ist ja eine Mayorz-Wahl. Trotzdem finde ich es vernünftig, dieses Kriterium freiwillig zu erfüllen.
Und, war es schwierig, die Unterschriften zusammen zubringen?

Nein, überhaupt nicht (lacht vergnügt). Es hat uns selber erstaunt, wie schnell die zusammen waren. Nach wenigen Tagen sind schon über 160 Unterschriften zusammen gekommen und zwar von Frauen und Männern aus dem ganzen Kanton und aus allen Altersschichten. Das zeigt mir, dass meine Kandidatur richtig und wichtig ist.
Warum haben die Parteien nur Männer nominiert? Gibt es in Appenzell Ausserrhoden keine fähigen Frauen?

Warum nur Männer in die Auswahl kamen, ist auch für mich ein Rätsel. Wir haben bei allen Parteien sehr wohl fähige Frauen, Kantonsrätinnen, wie z.B. Ruth Tobler von der SP, von der FDP Frau Landamman Alice Scherrer oder Dorle Vallender unsere Alt-Nationalrätin. (Nachdenklich) Ich kann es nicht sagen.
Warum wirst du von keiner Partei portiert?

Weil ich parteilos bin. FDP und SVP haben ihre Kandidaten, die anderen Parteien haben noch keine Wahlempfehlung abgegeben. Sie werden erst Mitte Januar entscheiden, wen sie unterstützen.
Wie stufst du dich politisch ein?

Ich würde sagen, dass ich die "fortschrittliche Mitte“ repräsentiere.
Und was heisst das?

Ich setze mich ein für Frauen, Männer und Kinder; für ein partnerschaftliches Zusammenleben der Menschen, für einen Erwerbsersatz bei Mutterschaft, für ausserfamiliäre Betreuungsangebote für Kinder, für gute Bildungsangebote für unsere Kinder und Jugendlichen, für Chancengleichheit, für eine offene, vielfältige Schweiz.
Und wie hast du es mit dem Staat? Braucht es mehr oder weniger Staat?

Diese Frage kann ich so allgemein nicht beantworten. Es kommt darauf an: Es gibt Bereiche, die nur der Staat abdecken kann, wie etwa die Rechtsprechung , die Energieversorgung oder der Zugang zu Wasser. Auch das Kinder kriegen ist keine "Privatsache“; wir als Gesellschaft sind auf Kinder angewiesen. Der Staat soll hier die Eltern unterstützen, deshalb bin ich auch für die Ausdehnung der Beiträge aus der Erwerbsersatzordnung auf Mütter oder für die staatliche Anstossfinanzierung von Kinderbetreuungsangeboten. Es gibt aber auch Bereiche, die der Privatinitiative überlassen werden können. Und: Es braucht auch Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Das Recht soll nicht alles reglementieren.
Wie siehst du deine Wahl-Chancen?

Immer besser. Es ist enorm, welche Unterstützung ich erfahre. Ich hatte auch einige Telefonate mit besorgten Bürgern, die mir jeweils erklärten, ich nähme den beiden offiziellen Kandidaten Hans Altherr oder Jakob Freund die entscheidenden Stimmen weg (schmunzelt). Offenbar wird meine Kandidatur ernst genommen. Das freut mich natürlich.


Ich denke ich bin für viele wählbar: Für Frauen jeder politischen Couleur, für aufgeschlossene Männer und auch für die Jungen. Ich bin schliesslich mit 52 Jahren die Jüngste der Kandidierenden... (lacht).
Und wie geht es im Wahlkampf weiter?

Ja, da müssen wir noch einiges tun: Geld sammeln, Inserate aufgeben, Auftritte organisieren etc. Es ging jetzt ja alles so furchtbar schnell. Eine Kerngruppe von Männern und Frauen hat sich als Wahlkomitee konstituiert, gute Ideen und auch Geld sind da natürlich willkommen. Am 11. Januar 2004 werde ich im Bärensaal in Grub AR zu einem Vernetzungs-Apéro einladen.
Apropos Geld: Was hast du für ein Budget?

Ich kann einerseits auf die UnterzeichnerInnen meiner Kandidatur zählen; die bisherigen Kosten sind eher tief (lacht): Bisher macht das pro Person rund zehn Franken aus. Ich werde sicher nicht gleich viel zur Verfügung haben wie meine Konkurrenten, aber ich bin sicher, dass ich einen guten Wahlkampf führen kann, da er ja auf der überzeugung derjenigen aufgebaut wird, die mich nachher auch wählen wollen.
Du bist zur Zeit in vielen verschiedenen Gremien tätig, als Oberrichterin, bei verschiedenen Frauenorganisationen, in kirchlichen Gremien. Hast du überhaupt Zeit für den Ständerat?

Für den Fall einer Wahl habe ich angekündigt, dass ich auf den nächsten Wahltermin meinen Rücktritt aus dem Obergericht geben werde. In Appenzell Ausserrhoden werden die Mitglieder des Obergerichts an der Urne gewählt, so dass hier eine sorgfältige Auswahl getroffen werden muss, die etwas Zeit braucht.


In meinen anderen "Jobs“ oder Hobbys kann ich mir die nötige Zeit ohne weiteres freischaufeln; dazu habe ich bereits erste Abklärungen getroffen. Ich würde einen Teil aufgeben, in einem anderen Teil würde ich mich zurückstufen.
Zum Schluss: Dein Wunsch für den 8. Februar?

Ich freue mich auf den 8. Februar. Ich möchte den Wählerinnen und Wählern mit meiner Kandidatur eine echte Auswahl geben. Ich hoffe sehr, dass durch eine spannendere Wahl die Wahlbeteilung hoch ist und vor allem auch die Frauen an die Urne gehen werden - mein grösster Wunsch: Alle Stimmberechtigten gehen wählen und abstimmen!
Vielen Dank für dieses Gespräch.

 


Gespräch vom 22. Dezember 2003

 

Autorin/Autor

 

Publikationsdatum 29.12.2003
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