Politik und Gesellschaft

Gedanken zum Jahreswechsel

Kaum je endete ein Jahr so unsicher und mit so viel Unglück, wie das Jahr 2004. Unbeschreibliche Not herrscht in vielen Ländern. Krieg und Zerstörung wüten und weitere überlegungen zu kriegerischen Angriffen werden bereits gemacht. So wünsche ich uns ein friedlicheres neues Jahr.
Menschen, die um ihr eigenes oder das Leben ihrer Lieben bangen. Tausende von Menschen in der ganzen Welt, die ihre Familienangehörigen vermissen, die grossenteils keinen Anhaltspunkt haben, was mit ihnen passiert ist, ob sie noch leben und dennoch auch Tage nach dem todbringenden Seebeben noch immer nicht all ihre Hoffnungen der See übergeben haben. Asien ist weit weg. Doch kann uns das Leid dort kalt lassen? In einer Zeit noch, in der die grauenvollen Bilder stündlich in unsere Stuben gesendet werden. Mich macht es fast verrückt, machtlos in der Ferne sitzen zu müssen und nicht oder nur durch Geld- und Materialspenden helfen zu können. Gedanken um die unbeschreibliche Not in diesen Ländern verfolgen mich während des ganzen Tages. Mir vorzustellen, dass ich Bekannte oder Familienmitglieder über eine Homepage suchen müsste, bedrückt mich.


Und dann gibt es auch die andere Kategorie an Menschen in den notleidenden Gebieten. Es sind jene, die sich kaum darüber zu scheren scheinen, was nur wenige Kilometer von ihnen entfernt passiert. Die Urlauber beispielsweise, die sich einen Steinwurf vom Katastrophengebiet entfernt, genüsslich in der Sonne aalen und ihre Ferienzeit trotz der nahen Not oder vielleicht gerade des eigenen grossen Glückes wegen geniessen. Ich hörte Interviews mit deutschen Männern, die sich beinahe als Wohltäter wähnten, weil sie durch ihren Aufenthalt ja schliesslich den überlebenden Einheimischen eine Verdienstmöglichkeit geben und ihre Bereitschaft gerade auch Frauen zu unterstützen, indem sie ihre sexuellen Dienste in Anspruch nehmen wollten.


Auch die Meldungen aus Sri Lanka, einem der sehr stark betroffenen Katastrophengebiete stimmt traurig. In der einen Region werden letzte überlebende und Vermisste gesucht, in der anderen herrscht weiterhin Bügerkrieg. "Müsste dieses Unglück und die grosse Not nicht eine Art Innehalten und Nachdenken bewirken?“, frage ich mich. Kurz vor dem übergang in ein neues Jahr machen sich die meisten Menschen Gedanken zur Zukunft, doch kaum je standen wir an einem ähnlich belastenden Jahresende. Hemmungsloser und dank Globalisierung grenzenlos sich entfaltender Egoismus, Habsucht und Raffgier scheinen zu steigen. Wachsendes Unwissen und grassierende Dummheit sind das Ergebnis mangelnder Investitionen in Bildung und Ausbildung, doch auch der mangelnden Information. Prall gefüllte Zeitungen versprechen zwar eine unermessliche Informationsfülle, finden sich aber bei genauerem Hinsehen als Sumpf immer ähnlichen Wortlauts. Nachrichten sind oft nur noch Beiwerk für die stetig schwindende Zahl politisch interessierter Leute. Politiker, die besonders laut sind, werden am ehesten gehört. Krieg Gewalt und Folter sind Mittel der Politik, die sich neu etablieren. Die Angstmacherei um den Terrorismus verharmlost kriegerische Einsätze mit regulären Truppen. Und vieles geschieht unter dem sicheren Deckmantel des Glaubens. So nehmen wir, fest auf dem Boden des Christentums stehend, den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet und in demokratischer Selbstbestimmung sehenden Auges alles hin. Die Reichen werden immer reicher, die Armen ärmer und ärmer.


Im Irak herrscht immer noch Krieg. Guantanamo ist nicht aufgelöst und im Sudan werden immer noch Menschen aus ihren Dörfern vertrieben. Im Mittelmeer hat der Seekrieg gegen die Flüchtlingsboote begonnen. Längst denken Generalstäbe darüber nach, wo die nächste Attacke gegen das Böse gestartet werden kann und der deutsche Innenminister will im Norden Afrikas Sammelplätze schaffen, die zwar nicht Lager heissen, es aber sein werden. Solche Dinge sind es, die uns Sorgen machen. Ist es also überhaupt möglich, diese Entwicklung zu beeinflussen? Und wäre es nicht besser, auch mit dem Strom zu schwimmen, statt hilflos dagegen zu kämpfen? Doch wieso nur fällt mein Jahresrückblick so negativ aus? Die Welt verbessert sich nie durch die Klage und Verurteilung. Es ist die Fähigkeit zur Veränderung, die die Welt verbessern kann. Es ist nicht der Hass und die Rache, sondern die Verzeihung und die Liebe, die die Welt vorantreiben. So wünsche ich uns für das neue Jahr den Mut für Veränderungen und mehr Mitgefühl für die Mitmenschen. Möge das neue Jahr uns in bessere Bahnen lenken!

 

Autorin/Autor

 

Publikationsdatum 31.12.2004
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