Wohlbefinden

Sex im Alter

Wenn Amors Pfeil so richtig trifft, kann das alle bisher gelebten Wert- und Moralvorstellungen eines Menschen auf den Kopf stellen. Mann und auch Frau kommt dann bisweilen recht ins "Schleudern“ und kennt sich fast selbst nicht mehr. Julia Onken rät in einem solchen Fall: zulassen und geniessen!
Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. Erschrocken fahre ich hoch. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes! Mein Lebensgefährte lässt sich in seinem Schlaf nicht stören und schläft unbekümmert weiter. Und das ist gut so.


Lieselotte, eine Freundin ist am Apparat. Es ist einfach schrecklich, poltert sie mir ins Ohr. Was soll ich machen? Du bist der einzige Mensch, der mir da noch aus der Patsche helfen kann. Es klingt ernst. Ich befürchte, sie hat irgendeinen fürchterlichen Unfall gebaut.
Voll erwischt...

Und dann sprudelt es aus ihr heraus, ohne dabei auch nur ein einziges Mal Atem zu holen: Dass mir das noch in meinem Alter passieren muss! Seit Ferdinand tot ist, habe ich dieses Thema endgültig bei mir abgehakt. Es war ja nie sonderlich aufregend. Du weißt. Ein lieber Mann war er zwar schon. Aber das Bett. Na ja. In Filmen sieht das alles immer viel aufregender aus.


Komm zur Sache, dränge ich. Du holst mich doch nicht nachts um zwei Uhr aus dem Bett um mir mitzuteilen, dass bei dir die sexuellen Bedürfnisse auf der Strecke geblieben sind.


Nein, ruft sie etwas ärgerlich. Aber mich hat es jetzt erwischt. Und wie. Und ich weiss wirklich nicht, wie weiter. Ich lerne erst jetzt das kennen, was ich eigentlich schon immer vermisste.


Und nun erzählt sie von ihrer Liebe zu einem gleichaltrigen, ebenfalls verwitweten Mann, den sie auf einem Seniorenausflug kennen gelernt hatte und der sie zunächst keineswegs interessierte, der sich aber auffallend um sie bemühte und keine Gelegenheit ausser Acht liess, um sich mit ihr zu unterhalten. Dabei sei er ihr immer sympathischer geworden bis sie sich schliesslich regelrecht wie ein Schulmädchen in ihn verliebt hätte. Dann schildert sie jedes Detail der ersten körperlichen Annäherung, die Zärtlichkeiten, die einem Dammbruch gleich sämtliche Sicherungen niederrissen, von der Lust, die ungehemmt wie ein Sturzbach über sie hereingefallen sei, vom inneren Brand, der schier unlöschbar nach weiteren Löschaktionen dürste, von Gipfelstürmen, die einfach atemberaubend gewesen seien.


Ich hörte zu, stand da, neben dem Bett meines Partners, der da selig weiterschlief, fröstelte etwas in meinem Nachthemd und fragte Liselotte, wo denn nun das Problem sei.


Du hast gut reden!, pfiff sie mich an. Du hast einen Partner an Deiner Seite und bist dir derartiges gewöhnt! Na ja, denke ich und blicke auf die völlig entspannten Gesichtszüge meiner schlafenden besseren Hälfte.
Freu' Dich! Geniess' es!

Wo aber ist denn das eigentliche Problem!, dränge ich weiter.
Das Problem ist mein Alter. Ich bin einundsiebzig! Ein-und-siebzig, verstehst du!


Nein, ich verstand nicht. Und nun will ich ihr alles, was mir da durch den Kopf jagt, sagen, nachts um zwei, stehend, im Hemd, will sie beschwören, sich diese einmalige Chance unter keinen Umständen entgehen zu lassen. Das ist doch nun wirklich kein Problem, rede ich auf sie ein. Freu' Dich! Geniess' es! Dank dem lieben Gott für dieses Geschenk! Besser spät, als nie. Ich hole aus, möchte sie davon überzeugen, dass sich die Sexualität nicht nach Lebensalter regulieren lasse sondern eine sehr persönliche und individuelle Angelegenheit sei. Die einen hätten ein grösseres Bedürfnis nach sexueller Aktivität, die anderen eben weniger, bei den einen finde Sexualität eher in jüngeren, bei anderen in älteren Jahren statt und wieder bei anderen sowohl in jungen Jahren als auch im fortgesetzten Alter und ebenso gäbe es solche, die weder als junge noch als ältere Menschen besonderen Spass daran fänden.
Sexualität - ein vitalisierendes Element

Alles sei eben normal, so wie es sich bei jedem und jeder abspiele, so sei es schon in Ordnung. Statistische Angaben seien ohnehin bedeutungslos. Am besten, wenn wir uns selbst an unseren eigenen Wünschen und Bedürfnissen lernen zu orientieren. Denn grundsätzlich sei Sexualität ein vitalisierendes Element, das beschwinge und die Lebensgeister ankurble. Zudem fliesse die sexuelle Energie frei, wohin auch immer, so wie an Pfingsten der heilige Geist, der wehe schliesslich auch dort, wo er wolle.


Dann bemerke ich, dass sie mir nicht mehr zuhört, nur noch ein fernes Kichern, lustvolle Geräusche atemloser Leidenschaft.


Ich lege den Hörer auf und gehe wieder ins Bett. Inzwischen hat sich mein Partner auf den Rücken gedreht, und mit jedem Atemzug strömt ein wohliges Schnarchen aus seinem halb geöffneten Mund.


Dann muss ich wieder eingeschlafen sein.


Am morgen, als ich aufwache, bin ich nicht mehr sicher, ob ich alles nur geträumt hatte.


 

 

Autorin/Autor

 

Julia Onken
Publikationsdatum 27.04.2003
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