Carmen, heute einer der erfolgreichsten und am
meisten gespielten Opern auf der Welt, stiess bei ihrer Uraufführung in der Pariser
Opéra-Comique auf heftigste Kritik. Zu brutal empfand das Publikum die
Darstellung der gesellschaftlichen Unterschicht, zu komplex die Musik. Sowohl
die realistische Milieudarstellung, Dramatik und schicksalhafte Tragik machten Komponist
Georges Bizet jedoch zum Vorläufer des Purismus. Erst die Rezitativfassung von
Ernest Guiraud brachte in Wien 1875 den verdienten Erfolg. Leider konnte der
Komponist diesen Erfolg nicht mehr miterleben.
Roter Faden
Dieser Purismus war der rote Faden, den
Regisseur Nicola Berloffa, zusammen mit Rafail
Ajdarpasic (Bühne) und Ariane
Isabell Unfried (Kostüme), aufgegriffen und weitergezogen hat. Den der Oper so
oft angehängten Touristen-Schnick-Schack hat er in einer gekonnten
Gratwanderung zugunsten der Authentizität und Dramatik weggelassen, ohne ihr die Charakteristik zu nehmen.
Authentische Ausstattung
So findet die Handlung hinter Jalousien
verdunkelten Räumen und entwurzelten Bäumen statt. Umgebungen, die die unangestrengt
hinreissenden Kostüme von Ariane Isabell Unfried in den Vordergrund stellen. Die
Kostümbildnerin nähert sich bei ihren Entwürfen mit spürbarer Empathie, nicht
nur den Figuren, deren Herkunft und Umgebung, sondern auch den Darstellern.
Dadurch gelingt ihr, wie zuletzt für die Festspieloper „La damnation de Faust“, wieder ein Kunstgriff mit abgerundetem und authentischem Rahmen.
Meilenstein der Musik
Georges Bizet erschuf mit seinem Werk erstmals
durch den neuartigen Einsatz von Dissonanzen und dem kunstvollen
Übereinanderschichten mehrerer Melodien einen Meilenstein in der
Musikgeschichte und vor allem ein Gegengewicht zu Wagners Leitmotivik. Dirigent
Modestas Pitrènas versteht es perfekt, dieses Zusammenspiel gemeinsam mit Orchester,
Solisten und Chor akustisch und emotional auf das Publikum zu übertragen.
Solider Rückhalt
Mit einem Schmunzeln zeigt sich der riesige Kinderchor
unter der Leitung des Ehepaars Terhi Lampi-Fromageot und Stéphane Fromageot.
„Tarattatata“ äffen sie die Soldaten nach und füllen die Szenerie hier trotzig, dort diszipliniert. Eine tolle Leistung, die prompt vom Publikum honoriert
wird.
Genau so perfekt schafften es Opernchor und Theaterchor gemeinsam, musikalische
Untermalung und szenische Aktion unter einen Hut zu bringen.
Besonders die Solisten Jordan Shanahan und
Riccardo Botta als Schmuggler Dancaïro
und Remendado bilden gemeinsam mit den Solistinnen Susanne Gritschneder und Alison Trainer als Mercédès und Frasquita einen soliden stimmlichen und szenischen Rückhalt mit einigen Finessen.
Würgegriff einer Frau
Rauchende Soldaten erwarten mit Spannung auf
die Pause der Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik, während Micaëla (Cristina
Pasaroiu) ihre Jugendliebe José (Ladislav Elgr) sucht. In Berloffas Inszenierung
erfährt die Figur Micaëla, als einzige in Rot gekleidet, die Position einer
starken Frau. Bereit, sich für Ihren Geliebten aufzuopfern und ihn mit Entschlossenheit
aus dem Würgegriff von Kriminalität und vergifteter Leidenschaft zu befreien. Eine
Aufgabe, die Cristina Pasaroiu überzeugend, stimmlich rund und bewegend
meisterte. Das Publikum war sich darin einig.
Verflixtes Französisch
Der Würgegriff ist der von Carmen (Alex
Penda). Ihr liegen alle Männer zu Füssen. Ausser José, der sie mit seiner
Gleichgültigkeit erst richtig anstachelt. Unheilvoll beginnt sie mit ihrem
Spiel, in dem sie sich wie eine Schlange langsam an ihr Opfer schmiegt.
Liebessehnsucht, vergiftende Leidenschaft und unwiderstehliche
Erotik von einer Dame aus der untersten Gesellschaftsschicht, die zugleich fasziniert
und abstösst. Eine komplexe Aufgabe für die Hauptfigur Carmen, nicht nur
musikalisch. Selbst für Muttersprachler erfordern die gesanglichen Passagen in der Artikulation von
Solisten und Chor enorme Übung und Kunstfertigkeit. Die Arien, mit Koloraturen ausgeschmückt, verlangen
gleichzeitig nach dramatischem Ausdruck, was Leichtigkeit und Kraft im selben
Mass abverlangt.
Komplexe Titelfigur
Höchste Anforderungen, denen die bulgarische Sopranistin
Alex Penda, mit Ausnahme einiger Lichtblicke am Ende der Oper, nur teilweise gewachsen ist. Die Komplexität und Eleganz der Hauptfigur vermag sie mit Ausnahme der falsch angezogenen Kastagnetten recht gut umzusetzen. Dennoch ist Ihre Bühnenpräsenz so schwach, dass sie oftmals in der Chormenge verschwand. In den Arien reisst sie die Phrasen zu hastig ab und zeigt ein zitterndes Vibrato in den tiefen
Lagen, das zeitweise schwer von den Koloraturen zu unterscheiden war. Zu vermuten ist,
dass Frau Penda anfangs szenisch überagieren musste und dass ihr die für einen
Mezzosopran geschriebene Carmen generell zu tief liegt, weshalb es an der
erhofften Gesetztheit und Kraft fehlt.
Zweite Besetzung
Schade, denn an der Matinee vom vorigen
Sonntag hatte die zweite Besetzung Gala El Hadidi mit der Habanera sowohl
darstellerisch, als auch musikalisch eine überzeugende Leistung als Vorgeschmack
geliefert, die das Publikum in Entzücken versetzte.
Starke schwache Männer
Aris Argiris trumpft dagegen mit
mediterran-männlichem Auftreten als Escamillo und hielt trotz stimmlicher
Indisposition tapfer durch. Tenor Ladislav Elgr bietet trotz seines eher
androgynen Auftretens als José darstellerische und gesangliche Höchstleistungen
bis hin zur hörbaren Erschöpfung. Carmen, die José innerlich zerreisst, seine
Karriere zerstört und zum Kriminellen macht, hat er in einem Befreiungsschlag und von einem musikalischen Feuerwerk begleitet, erstochen. Szenen, bei denen es auch im Publikum
heiss wurde.
Meine Empfehlung:
Schauen/hören Sie sich beide
Besetzungen an, Musik, Ausstattung und Inszenierung sind in jedem Fall mehr als
einen Besuch wert. Und nehmen Sie Ihren Fächer mit, es wird in jeder Hinsicht heiss!