Sozial, engagiert, kämpferisch und mit Toggenburger Kopf – Zum Tod von Emilie Lieberherr

Ostschweizerinnen, die Geschichte schrieben

Bild
Bis ins hohe Alter aktiv: Emilie Lieberherr 2009 in einem Interview.
Bild
So wurde sie in den Siebzigerjahren bekannt: Emilie Lieberherr, wie sie leibte und lebte.

Emilie Lieberherr

Emilie Lieberherr ist nicht mehr unter uns. Wir Frauen haben ihr nicht nur das Stimmrecht mitzuverdanken, sondern Alimentenbevorschussung, Wohnfürsorge für Betagte, eine neue Drogenpolitik und weitere wichtige Dinge. Sie kämpfte unermüdlich  an vorderster Front, als es darum ging, Landesvertreterinnen zu wählen. Sie wurde gehört. Sie war machtvoll, charismatisch, engagiert.Vergessen wir sie nie!


NZZ Nachrichten vom 4.1.2011


Die Nachricht vom Tod Emilie Lieberherrs hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Die Grande Dame wurde in politischen Kreisen jeder Couleur geschätzt und geehrt. Sie war nicht bloss eine mächtige Politikerin, sondern vor allem ein grossartiger Mensch, der zeitlebens für Gerechtigkeit und Gleichstellung kämpfte.

 

Cornelia Forrer

05:01:2011

 

Wäre die Zeit damals schon reif gewesen, Emilie Lieberherr wäre zur ersten Bundesrätin gewählt worden, denn sie sei „absolut bundesratsfähig“ gewesen, sagt SP-Urgestein Helmut Hubacher über die starke Persönlichkeit. Nie habe sie eine Nebenrolle spielen müssen, „denn wo sie war und stand, war sie immer im Mittelpunkt“, führt er weiter über „die Frau der ersten Stunden mit Erfolgsausweis“ aus.


Der ehemalige Stadtpräsident von Zürich,  FDP-Mitglied Thomas Wagner, lobt Lieberherr als unkonventionelle Frau mit Kampf- und Pioniergeist, die viel für die Gesellschaft geleistet habe. Corinne Mauch, jetzige Zürcher Stadtpräsidentin und SP-Mitglied, betitelt ihre politische Vorkämpferin  als „bis ins hohe Alter tatkräftig und streitbar“. Eine grosse Persönlichkeit und prägende Figur sei die ehemalige Stadträtin gewesen.


Die Zielstrebige und die Unkonventionelle

Koni Loepfe, ehemaliger SP-Stadtparteipräsident, attestierte Lieberherr Stärke und einen ausgeprägten Machtinstinkt. Damit habe sie all ihre politischen Ziele erreicht. Als „sehr souverän“ wird sie von ehemaligen Mitarbeitenden charakterisiert. Jemand erzählt, wie offen und unkonventionell sie gewesen sei und dass sie beim Besuch des Stars Peter Fonda in Zürich, auf seinem Motorrad als Sozius Runden um das Stadthaus gedreht habe.


„Kaffee kochen konnte sie aber nicht“, erzählt eine grosse Verehrerin Lieberherrs. Man hab die Zähne zusammenbeissen und ihn schnell herunterschlucken müssen. Die Umweltaktivistin, die ledig blieb, jedoch mit ihrer Freundin, Minnie Rutishauser, zusammen lebte, war wahrlich nicht die geborene Haushälterin. Das Geschirr spülte sie am laufenden Wasserhahn, auch wenn sie sich ständig dabei entschuldigte. „Weisst du, es geht halt schneller“, erklärte sie.


Ihre Ausstrahlung, ihr grosses Wissen, ihr immenses Herz und ihre klare Linie wird man in allen Kreisen vermissen. Auch Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey reagierte darum mit Bestürzung auf den Tod der alten Dame. Mit ihr sei eine grosse Menschenfreundin von uns gegangen, die sich für eine sozialere und gerechtere Welt nicht bloss mit Worten, sondern auch mit Taten, eingesetzt habe.


Die Kämpferin und die Gebildete

Wer war die Politikerin, die Mächte jeder Couleur an einen Tisch zu bringen und zu verhandeln vermochte? Wer war die Frau, die sich vehement für die Gleichstellung einsetzte und sich zu ihrer Lebenspartnerin bekannte, als es noch als Tabuthema galt, homosexuell zu sein? Und wer war der Mensch, der sich für die Herroinabgabe an Schwerstsüchtige, für die Alimentenbevorschussung oder Einsatzprogramme für stellenlose Jugendliche mit Erfolg stark machte?


Sicher ist, dass Emilie Lieberherr, geboren und aufgewachsen als Arbeiterkind in Erstfeld, mit Ostschweizer Wurzeln, den Erfolg nicht so einfach in die Wiege gelegt bekommen hatte. Dennoch wurde dem klugen Mädchen die Möglichkeit eingeräumt, das katholische Internat Theresianum in Ingenbohl zu besuchen und mit Handelsdiplom abzuschliessen.


Später  holte Lieberherr die Handelsmaturität nach und studierte Nationalökonomie an der Universität in Bern, was sie schliesslich mit Lizenziat abschloss. In Anstellungen bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich, bei der Oscar Weber AG in Bern, als Au Pair  in den USA, wo sie unter anderem für die bekannten Fondas arbeitete und als Berufsschullehrkraft für das Verkaufspersonal in Zürich, entwickelte Lieberherr wohl ihre soziale Ader.


Die Geradlinige und die Gleichberechtigte

Sie trat der SP bei und wirkte von 1970 bis zum Rücktritt 1994 als erste Stadträtin von Zürich und geschichtsschreibende Sozialvorsteherin. 1978 bis 1983 vertrat Emilie Lieberherr daneben den Kanton Zürich als Ständerätin in der Bundesversammlung. Wenn immer Sozial-, Menschenrechts- oder Gleichstellungsthemen auf der Agenda standen, war die Stimme Lieberherrs zu vernehmen. Und sie hatte einiges an Gewicht.


Dass die Politikerin nicht blind nach Parteivorgabe, sondern nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen  handelte, zeigte sich, als sie 1990  nicht den schliesslich gewählten Parteikollegen Josef Estermann, sondern den bisherigen Thomas Wagner von der FDP im Wahlkampf um das Stadtpräsidium offen unterstützte. Sie wurde jedoch Jahre vorher aus der SP ausgeschlossen, mit der offiziellen Begründung, ihre Parteisolidarität in Sach- und Personalfragen sei „mangelhaft“. Für die Amtsdauer 1982 bis 1986 wurde Emilie Lieberherr schliesslich mit Unterstützung des Zürcher Gewerkschaftsbundes wiedergewählt.


Emilie Lieberherr trat erstmals politisch auf, als sie zu einer führenden Persönlichkeit im Kampf um das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde, das endlich am 16. März 1971 wirksam wurde. Die Mitbegründerin des Konsumentinnenforums Schweiz, das sie von 1965 bis 1978 präsidierte, war auch Mitinitiantin der Zeitschrift „prüf mit“, als dessen erste Chefredaktorin sie auch amtete. 1976 bis 1980 war Lieberherr erste Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen.


Die Engagierte und die Richtungsweisende

Wenn nun die Stimme Emilie Lieberherrs verstummt ist, hinterlässt sie dennoch ein beachtliches Erbe für die Gesellschaft, für die Politik, für die Familien und für die Frauen. Am von Emilie Lieberherr mitinitiierten „Marsch nach Bern“ am 1. März 1969 nahmen 5000 Frauen und Männer teil und demonstrierten vor dem Bundeshaus. Man stimmte der Resolution Lieberherrs mit grossem Applaus zu.


«Die hier versammelten Schweizerinnen fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene und in den Gemeinden. Die Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten darf erst unterzeichnet werden, wenn bezüglich des Stimm- und Wahlrechts kein Vorbehalt mehr nötig ist

.
Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ist eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte. Sämtliche vorgeschlagenen Vorbehalte stellen die Glaubwürdigkeit unseres Landes als Rechtsstaat und Demokratie in Frage.
Wir fordern deshalb alle gutgesinnten Politiker und Stimmbürger auf, das Frauenstimm- und Wahlrecht im Bund, in den Kantonen und in allen Gemeinden so rasch als möglich zu verwirklichen.»

 

Wenn die Teilnahmezahl der Demonstrierenden zur heutigen Zeit gering erscheint, muss erwähnt werden, dass es damals die herrschaftliche Politik ziemlich erschreckte. Es opponierten nämlich nicht bloss die radikalen Stimmrechtskämpfer, sondern erstmals auch Frauenorganisationen wie der Gemeinnützige Frauenverein, der Landfrauenverband, der katholische und der evangelische Frauenbund.


Die Heroinabgabe an Schwerstsüchtige und die Schaffung des Vier-Säuen-Modells der schweizerischen Drogenpolitik, die Alimentenbevorschussung, 22 Altersheime in Zürich, die Stiftung Wohnfürsorge für Betagte, Jugendtreffpunkte in den Quartieren und Einsatzprogramme für arbeitslose Jugendliche sind nur einige Ihrer Vermächtnisse. Emilie Lieberherrs Stimme ist verstummt. Bleibt zu hoffen, dass sie und ihr Werk auch in Zukunft in Erinnerung bleiben.



zurück            Diesen Artikel versenden            Mein Kommentar zu diesem Artikel
Verein ostschweizerinnen.ch · c/o Nelly Grubenmann · Tellen | Postfach 30· 9030 Abtwil · kontakt@ostschweizerinnen.ch