Ostschweizerinnen, die Geschichte schrieben
Emilie Lieberherr ist nicht mehr unter uns. Wir Frauen haben ihr nicht nur das Stimmrecht mitzuverdanken, sondern Alimentenbevorschussung, Wohnfürsorge für Betagte, eine neue Drogenpolitik und weitere wichtige Dinge. Sie kämpfte unermüdlich an vorderster Front, als es darum ging, Landesvertreterinnen zu wählen. Sie wurde gehört. Sie war machtvoll, charismatisch, engagiert.Vergessen wir sie nie!
Die Nachricht vom Tod Emilie Lieberherrs hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Die Grande Dame wurde in politischen Kreisen jeder Couleur geschätzt und geehrt. Sie war nicht bloss eine mächtige Politikerin, sondern vor allem ein grossartiger Mensch, der zeitlebens für Gerechtigkeit und Gleichstellung kämpfte.
Cornelia Forrer
05:01:2011
Wäre die Zeit damals
schon reif gewesen, Emilie Lieberherr wäre zur ersten Bundesrätin gewählt worden,
denn sie sei „absolut bundesratsfähig“ gewesen, sagt SP-Urgestein Helmut
Hubacher über die starke Persönlichkeit. Nie habe sie eine Nebenrolle spielen
müssen, „denn wo sie war und stand, war sie immer im Mittelpunkt“, führt er
weiter über „die Frau der ersten Stunden mit Erfolgsausweis“ aus.
Der ehemalige Stadtpräsident
von Zürich, FDP-Mitglied Thomas Wagner, lobt
Lieberherr als unkonventionelle Frau mit Kampf- und Pioniergeist, die viel für
die Gesellschaft geleistet habe. Corinne Mauch, jetzige Zürcher
Stadtpräsidentin und SP-Mitglied, betitelt ihre politische Vorkämpferin als „bis ins hohe Alter tatkräftig und
streitbar“. Eine grosse Persönlichkeit und prägende Figur sei die ehemalige
Stadträtin gewesen.
Die Zielstrebige und die Unkonventionelle
Koni Loepfe, ehemaliger
SP-Stadtparteipräsident, attestierte Lieberherr Stärke und einen ausgeprägten
Machtinstinkt. Damit habe sie all ihre politischen Ziele erreicht. Als „sehr
souverän“ wird sie von ehemaligen Mitarbeitenden charakterisiert. Jemand
erzählt, wie offen und unkonventionell sie gewesen sei und dass sie beim Besuch
des Stars Peter Fonda in Zürich, auf seinem Motorrad als Sozius Runden um das
Stadthaus gedreht habe.
„Kaffee kochen konnte sie aber nicht“, erzählt eine grosse Verehrerin Lieberherrs. Man hab die Zähne zusammenbeissen und ihn schnell herunterschlucken müssen. Die Umweltaktivistin, die ledig blieb, jedoch mit ihrer Freundin, Minnie Rutishauser, zusammen lebte, war wahrlich nicht die geborene Haushälterin. Das Geschirr spülte sie am laufenden Wasserhahn, auch wenn sie sich ständig dabei entschuldigte. „Weisst du, es geht halt schneller“, erklärte sie.
Ihre Ausstrahlung, ihr
grosses Wissen, ihr immenses Herz und ihre klare Linie wird man in allen
Kreisen vermissen. Auch Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey reagierte darum mit
Bestürzung auf den Tod der alten Dame. Mit ihr sei eine grosse Menschenfreundin
von uns gegangen, die sich für eine sozialere und gerechtere Welt nicht bloss
mit Worten, sondern auch mit Taten, eingesetzt habe.
Die Kämpferin und die Gebildete
Wer war die Politikerin,
die Mächte jeder Couleur an einen Tisch zu bringen und zu verhandeln vermochte?
Wer war die Frau, die sich vehement für die Gleichstellung einsetzte und sich
zu ihrer Lebenspartnerin bekannte, als es noch als Tabuthema galt, homosexuell
zu sein? Und wer war der Mensch, der sich für die Herroinabgabe an
Schwerstsüchtige, für die Alimentenbevorschussung oder Einsatzprogramme für
stellenlose Jugendliche mit Erfolg stark machte?
Sicher ist, dass Emilie
Lieberherr, geboren und aufgewachsen als Arbeiterkind in Erstfeld, mit
Ostschweizer Wurzeln, den Erfolg nicht so einfach in die Wiege gelegt bekommen
hatte. Dennoch wurde dem klugen Mädchen die Möglichkeit eingeräumt, das
katholische Internat Theresianum in Ingenbohl zu besuchen und mit Handelsdiplom
abzuschliessen.
Später holte Lieberherr die Handelsmaturität nach und studierte Nationalökonomie an der Universität in Bern, was sie schliesslich mit Lizenziat abschloss. In Anstellungen bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich, bei der Oscar Weber AG in Bern, als Au Pair in den USA, wo sie unter anderem für die bekannten Fondas arbeitete und als Berufsschullehrkraft für das Verkaufspersonal in Zürich, entwickelte Lieberherr wohl ihre soziale Ader.
Die Geradlinige und die Gleichberechtigte
Sie trat der SP bei und wirkte von 1970 bis zum Rücktritt 1994 als erste Stadträtin von Zürich und geschichtsschreibende Sozialvorsteherin. 1978 bis 1983 vertrat Emilie Lieberherr daneben den Kanton Zürich als Ständerätin in der Bundesversammlung. Wenn immer Sozial-, Menschenrechts- oder Gleichstellungsthemen auf der Agenda standen, war die Stimme Lieberherrs zu vernehmen. Und sie hatte einiges an Gewicht.
Dass die Politikerin nicht
blind nach Parteivorgabe, sondern nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen handelte, zeigte sich, als sie 1990 nicht den schliesslich gewählten
Parteikollegen Josef Estermann, sondern den bisherigen Thomas Wagner von der
FDP im Wahlkampf um das Stadtpräsidium offen unterstützte. Sie wurde jedoch Jahre
vorher aus der SP ausgeschlossen, mit der offiziellen Begründung, ihre
Parteisolidarität in Sach- und Personalfragen sei „mangelhaft“. Für die
Amtsdauer 1982 bis 1986 wurde Emilie Lieberherr schliesslich mit Unterstützung
des Zürcher Gewerkschaftsbundes wiedergewählt.
Emilie Lieberherr trat erstmals politisch auf, als sie zu einer führenden Persönlichkeit im Kampf um das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde, das endlich am 16. März 1971 wirksam wurde. Die Mitbegründerin des Konsumentinnenforums Schweiz, das sie von 1965 bis 1978 präsidierte, war auch Mitinitiantin der Zeitschrift „prüf mit“, als dessen erste Chefredaktorin sie auch amtete. 1976 bis 1980 war Lieberherr erste Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen.
Die Engagierte und die Richtungsweisende
Wenn nun die Stimme Emilie
Lieberherrs verstummt ist, hinterlässt sie dennoch ein beachtliches Erbe für die
Gesellschaft, für die Politik, für die Familien und für die Frauen. Am von
Emilie Lieberherr mitinitiierten „Marsch nach Bern“ am 1. März 1969 nahmen 5000
Frauen und Männer teil und demonstrierten vor dem Bundeshaus. Man stimmte der
Resolution Lieberherrs mit grossem Applaus zu.
«Die hier versammelten Schweizerinnen fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene und in den Gemeinden. Die Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten darf erst unterzeichnet werden, wenn bezüglich des Stimm- und Wahlrechts kein Vorbehalt mehr nötig ist
.
Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ist eine wichtige Voraussetzung
für die Verwirklichung der Menschenrechte. Sämtliche vorgeschlagenen Vorbehalte
stellen die Glaubwürdigkeit unseres Landes als Rechtsstaat und Demokratie in
Frage.
Wir fordern deshalb alle gutgesinnten Politiker und Stimmbürger auf, das
Frauenstimm- und Wahlrecht im Bund, in den Kantonen und in allen Gemeinden so
rasch als möglich zu verwirklichen.»
Wenn die Teilnahmezahl der Demonstrierenden zur heutigen Zeit gering erscheint, muss erwähnt werden, dass es damals die herrschaftliche Politik ziemlich erschreckte. Es opponierten nämlich nicht bloss die radikalen Stimmrechtskämpfer, sondern erstmals auch Frauenorganisationen wie der Gemeinnützige Frauenverein, der Landfrauenverband, der katholische und der evangelische Frauenbund.
Die Heroinabgabe an
Schwerstsüchtige und die Schaffung des Vier-Säuen-Modells der schweizerischen
Drogenpolitik, die Alimentenbevorschussung, 22 Altersheime in Zürich, die
Stiftung Wohnfürsorge für Betagte, Jugendtreffpunkte in den Quartieren und
Einsatzprogramme für arbeitslose Jugendliche sind nur einige Ihrer
Vermächtnisse. Emilie Lieberherrs Stimme ist verstummt. Bleibt zu hoffen, dass
sie und ihr Werk auch in Zukunft in Erinnerung bleiben.