Hanbalecekia in Süddakota

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Bisonschädel mit heiliger Pfeife.
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Medizinrad - Astrologie der Erde.

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In der Sprache der Lakota-Indianer bedeutet „Hanbalecekia“ so viel wie „Ich hinterlasse ein Gebet“. Ein anderes Wort ist „Hanbleceya“. Es wird verwendet für den Begriff „Vision Quest“ (Visionssuche). Sie wird durchgeführt als Vorbereitung für die Sonnentanzfeiern am 21. Juni. Ein persönlicher Erlebnisbericht aus dem Land der unendlichen Weite…

 

Patricia Ertl

16:06:2009

 

Vorbereitung

Mai 2009, ein Tipi-Camp südlich von Rapid City, South Dakota. Die letzten Vorbereitungen für unsere Hanbalecekia sind im Gange. Wir elf Bleichgesichter aus der Schweiz und Deutschland zogen ins Land der Lakota, um uns von Charly Juchler (www.chanteetan.com) in das Denken und Brauchtum der Prärieindianer einführen zu lassen. Wir sitzen bis spät nachts im Tipi und knüpfen meditativ die je 405 Tabakbeutel, die für den Ritus erforderlich sind. Jedes Beuteli wird mit einer Prise Tabak und einem Gebet gefüllt. Dazu kommen sechs mit Tabak gefüllte Stoffflaggen. Plus eine Muschel. Doch angefangen hatte es bereits im Januar, mit dem Entscheid für diese Art einer Reise und dem Infotreff in Winterthur mit Charly.



Brückenbauer

Charly Juchler ist Schweizer, in Winterthur aufgewachsen. Schon früh trug er einen Traum in sich, die Sehnsucht nach seiner Seelenheimat im Herzen von Amerika. Seit den Neunzigerjahren konnte er sich nach und nach sein Zuhause in Süddakota aufbauen und ein grosses Netz von Freunden knüpfen. Seither leitet er Reisen und Seminare zur Kultur der Lakotaindianer. Einmal im Jahr führt er eine grosse Ausstellung mit indianischem Kunsthandwerk in der Schweiz durch. Dank dem Verkauf der Artefakte können die Kunstschaffenden für sich und ihre Familien den Lebensunterhalt bestreiten. Charly versteht sich als Brückenbauer zwischen Weiss und Rot auf verschiedenen Ebenen.



Lakota

Die Lakota gehören zum Volk der Dakota (Sioux)-Indianer. Sie wurden, wie alle indigenen Prärievölker, im Zuge der weissen Eroberung brutal unterdrückt und ihrer Lebensgrundlage, dem Land mit den Bisonherden, gewaltsam beraubt. Unzählige wurden ermordet und von den Krankheiten der Weissen dahingerafft. Es ist erschreckend, in welch kurzer Zeit eine ganze Nation zerstört wurde. Die Region der Black Hills im Südwesten des heutigen Bundesstaates Süddakota blieb bis zur Custer-Expedition im Jahr 1874 relativ unberührt. Doch man fand Gold, und das war der Anfang vom Ende. Siedler überrollten das Land wie Heuschrecken-schwärme, Millionen Büffel wurden abgeschlachtet, die unendliche Weite mit Stacheldraht eingezäunt. Die Eisenbahn erreichte 1886 bereits die nur zehn Jahre zuvor gegründete Siedlung Rapid City, die weisse Bevölkerung explodierte innerhalb von zwanzig Jahren um 2800% (!). Trotz zweier Kriegserfolge der Indianer unter den berühmten Anführern Crazy Horse und Sittung Bull im Sommer 1876 am Little Big Horn und in der Schlacht am Rosebud nahm die Tragödie einen raschen Verlauf.



Erwacht ein neuer Traum?

Unter militärischer Gewalt wurden die Indianer in Reservaten gefangen. Die Kinder in missionarischen „Ausbildungs“-Internaten von ihren Familien getrennt. Ihre Sprache und ihre spirituellen Rituale wurden verboten. Sie sollten zu frommen Weissen umerzogen werden. Das Resultat: Elend, Drogen, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Kriminalität. Verlust jeder Identität und Würde. Erst seit wenigen Jahren gestattet die US-Regierung ihnen Religionsfreiheit und somit die Ausübung ihrer heiligen Bräuche.
Einige haben es geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen, indem sie das alte Kunsthandwerk wieder praktizieren, die alten Lieder und Tänze zum Leben erwecken und sie mit der Moderne verbinden. „Art is powerful“ sagt Evans Ammonds, ein moderner „urban indian“ (Stadtindianer), der sehr erfolgreich von seiner Kunst leben kann. „Dreams come true!“ spricht er begeistert aus, was mir geradezu prophetisch vorkommt angesichts der Tatsache, dass beim berüchtigten Massaker von „Wounded Knee“ im Dezember 1890 der „indianische Traum“ endgültig gestorben schien.



Black Hills

Die Black Hills (schwarze Hügel) befinden sich ziemlich genau in der Mitte der USA. Sie bilden ein oval-kreisförmiges kieferbewaldetes Gebiet inmitten der unendlichen ehemaligen Prärieflächen. Die Lakota sehen sie als Herzzentrum der Welt, als sakrales Land, in dem grosse spirituelle Kräfte wohnen. Schon seit Tausenden von Jahren werden sie von Indianern besiedelt und für spirituelle Riten besucht, archäologische Funde lassen sich zurückdatieren auf 11'000 bis 16’000 Jahre. In den Black Hills lassen sich die nahezu ältesten Gesteinsschichten der Erde finden (ca. 2,5 Milliarden Jahre). Noch ältere Steine gibt es nach heutigem Stand des Wissens nur noch in Australien, Neuseeland und Canada. Im kosmologischen Verständnis der Lakota kam alle Schöpfung aus WINYAN, einer grossen Ahnfrau, welche entstand aus der Verbindung von INYAN, dem Stein, mit WI, der Sonne. Es gibt verschiedene Erzählversionen. Der weiche Stein (Magma) war jedenfalls zuerst, und aus seinem Blut schuf er „(Gross-)Mutter Erde“. Je älter ein Geschöpf, desto mehr Weisheit wohnt ihm gemäss Lakotaglaube inne. Wir Menschen sind das jüngste Produkt der Schöpfung. Unser Problem ist, dass wir am meisten Intelligenz haben, aber am wenigsten Weisheit („reich an Logos, arm an Sophia“). Weil die Black Hills so uralt sind, sind ihre Steine so weise und heilig.



Mitàkuye Oyasin

Die Topographie der Black Hills spiegelt bestimmte Sternkonstellationen, ein Phänomen, das auch von sakralen Regionen in Europa (z.B. Chartres) bekannt ist. „Wie oben – so unten“ ist das Prinzip der Astrologie. Für die Lakota war es die zentrale Weisheit. Alles ist EINS und alles ist ein Spiegel: die Erde reflektiert den Himmel, dargestellt in der Form der Tipis als zwei gegenpolige Kegel. Alle Handlungen und Rituale der Menschen im Jahreskreis waren in Harmonie mit den Vorgängen am Himmel, synchron „gleichgeschaltet“, um die kosmischen Kräfte anzuziehen. Und so wundert es die Astrologin nicht, dass zahlreiche Steinstätten der Black Hills in enger Verbindung mit den Sternen, dem „heiligen Atmen des Grossen Geistes“ stehen. Die höchste Erhebung, der „Harney Peak“ mit 2500 müM. ist eng verbunden mit den Plejaden, die bei den Lakota „die sieben Mädchen“ heissen. Das spirituelle Weltverständnis der Lakota betont die Ganzheitlichkeit und Verbundenheit aller Wesen untereinander sowie mit Erde und Himmel. Mitàkuye Oyasin heisst so viel wie „wir sind alle miteinander verwandt“. Mit „allen Verwandten“ sind auch die bereits verstorbenen Familienangehörigen in der geistigen Welt gemeint (Familie ist bei den Lakota ein sehr weiter Begriff). Und es schliesst auch Tiere, Pflanzen und Steine mit ein, natürlich auch Sonne, Mond und Sterne. Von ihnen allen können wir lernen, denn sie sind alle älter und somit weiser als wir. Am grössten aber ist die Weisheit der Steine.



Die Weisheit der Schöpfung

Voraussetzung ist, dass wir mit diesen „älteren Wesen“ in Verbindung treten und mit ihnen kommunizieren können, ihre Sprache wieder verstehen lernen (was wir leider vergessen haben). Zur Wieder-Rück-Verbindung (re-ligio) mit der Schöpfung dienen den Lakota die Lehren der Weissen Büffelkalbfrau, die heilige Pfeife und die sieben alten Riten. Das erinnert alles an unsere „eigenen“ matriarchalen Überlieferungen. Wir kannten eine Göttin der Weisheit (Sophia) und es war Brauch, bei Steinen der Göttin Rat, Hilfe und Heilung zu holen (z.B. beim Stein der Al-Lat in Mekka); viele dieser Steinstätten wurden von der Kirche zu „Teufelsfelsen“ diffamiert. Und so wie bei uns wurden auch die heiligen weiblichen Felsen der Lakota zu Stätten des Teufels umdefiniert, wie z.B. beim „Devil’s Tower“ (Mato tipila), der mit der Mythologie der Grossen Bärin und mit den Zwillinge-Sternen verbunden ist und noch heute (wieder) als sakraler Sonnentanzplatz am 21. Juni genutzt wird.



Starke Bärmutter

Mythologisch mit dem Mato tipila verbunden ist der „Bear Butte“ (Mato paha), ein heiliger Berg, der einst von schwangeren Frauen aufgesucht wurde und heute noch als Hanbleceya-Hügel benutzt wird. Bezeichnend ist, dass er uns von den Männern als männlicher „Bär-Berg“ vorgestellt wurde, während eine spirituelle Frau uns darauf aufmerksam machte, dass „er“ in perfekter Form eine liegende Schwangere darstellt. Es ist interessant, wie manche matriarchalen Bilder auf verschiedenen Kontinenten übereinstimmen. So wird in Lakota-Erzählungen berichtet, im Zentrum des Sternbildes der Grossen Bärin sei ein Loch, durch welches „Blue Woman“ (oder „Birth Woman“) den Seelen helfe zu inkarnieren und als Seelen wieder zurückzukehren (auf den Weg der Milchstrasse). Analog dazu war in unserem Kulturraum die Bärengöttin Artemis sowohl Geburtshelferin wie auch todbringende Jägerin. Die Sterne der Grossen Bärin sind mit ihrer Mythologie eng verknüpft. Und es ist kein Zufall, dass die Worte ge-bären und Bärin dieselben sind (engl. to bear und bear!). Ein altes Wort für Gebärmutter hiess Bärmutter! Wahrlich, unsere Ahninnen waren bärenstark! Doch bei uns sind die Rituale verloren gegangen, die uns immer wieder an unsere Ursprünge erinnerten.



Die sieben heiligen Riten

Obwohl die US-Regierung die Rituale der Lakota lange verbot, wurden sie im „Untergrund“ verborgen weitergeführt. Im Bewusstsein um deren Wichtigkeit für das seelische Überleben des Volkes. Zu diesen uralten  Zeremonien gehören nebst der „Vision Quest“ auch das „Inipi“ (Schwitzhütte zur Reinigung und Erneuerung) und der Sonnentanz. Je nach Quelle wird Unterschiedliches ausgesagt über das allererste und allerälteste heilige Ritual. Die Hanbalecia soll das erste gewesen sein. Ich habe jedoch auch die Aussage gehört, es sei die Initiation des Mädchens zur Frau bei ihrer ersten Menstruation gewesen. Vergessen wir nicht, auch die Indianer wurden vom Zeitalter des Patriarchats nicht verschont. Nach meinem Empfinden sind die Lakota ausgesprochen patriarchal geprägt. Die anfänglich weibliche Spiritualität ist sozusagen ausgestorben. Die wenigen noch praktizierenden Medizinmänner wissen nichts darüber (oder wollen es nicht sagen). Formell zeigt sich die weibliche Macht nur noch indirekt, z.B. wenn einer menstruierenden Frau verboten wird, sich dem Inipi-Areal zu nähern. Die Kraft ihres zur Erde fliessenden Blutes könnte den Rauch der heiligen Pfeife am Aufsteigen hindern und somit die Gebete nicht zu Grossvater Tunkàshila hinauf tragen… Wobei gerade beim Inipi die Vermutung sehr nahe liegt, dass es ursprünglich eine heilige Menstruationshütte der Frauen war.



Weisse Büffelfrau

Immerhin wird noch überliefert, dass alle heiligen Riten, alles Wissen und die heilige Pfeife einst von der himmlischen weissen Büffelfrau dem Volk überbracht wurden. Sie stand einst im Mittelpunkt der Lakota-Spiritualität. Sie wies die Menschen an, „wie ein lebendes Gebet“ zu gehen. Mit den Füssen auf der Erde und dem aufrechten Körper himmelwärts sollten sie „eine Brücke sein zwischen dem Heiligen Unten und dem Heiligen Oben“. Es gibt Erzählungen, die berichten von Weisser Büffelfrau als einem zur Erde gefallenen Stern. Ihre Spiritualität durchwebte das gesamte Alltagsleben der Lakota. Dieses Verbundenheits-empfinden ist uns durch die Trennungs-Philosophie des Patriarchats („divide et impera!“) völlig abhanden gekommen. Wir sind geprägt von der Spaltung zwischen Geist und Materie. Männer definierten, dass sie zur Oben-Hälfte gehören, die licht, gut, heilig sei. Während alle Frauen klar nach unten gehören, wo es dunkel ist, böse und profan. Der männliche Himmel wurde strikte von der weiblichen Erde abgehoben. Auch bei den Lakota ist diese Teilung zu beobachten. Dennoch hat sich bei ihnen das Konzept der Ganzheitlichkeit und Verbundenheit quasi skeletthaft noch rüberretten können.




Neue Zeit, neue Erde, neue Hoffnung

„White Buffalo Calf Woman“ erschien als Weisse, Rote, Schwarze und Braune. Ähnlich den Farben der Göttin, wie sie auch aus dem Alten Europa überliefert sind. Bei den Lakota ist die Zahl Vier heilig. Aller guten Dinge sind bei ihnen vier, analog zu den vier Himmelsrichtungen und den vier Beinen des mythologischen Büffels. Der heute aber nur noch, kahl geworden, auf einem Bein steht, was alle krisenhaften Symptome der kollektiven Endzeit bedeutet. Ein Zeitalter stirbt (das patriarchale). Zentrale Kraft der Göttin und der Frauen ist jedoch in allen Kulturen seit Urzeiten die mächtige Fähigkeit zur Wieder-Geburt des Lebens. Auch wenn SIE in der tatsächlichen Praxis und im modernen Bewusstsein nicht mehr präsent ist, so besteht doch „gute Hoffnung“: die schwangere Steinfrau des „Bear Butte“ ist dafür symbolhafte Zeugin. Das Neue Zeitalter (siehe Artikel von Astrologieanders) macht ja auch vor den USA nicht Halt. White Buffalo Woman ist schwanger und liegt in den Wehen. Es ist weiss Göttin keine leichte Geburt. Doch sie wird geschehen. Es wird berichtet, dass in jüngerer Zeit immer mehr weisse Bisonkälber geboren werden. Dies kann Frau durchaus als positives Zeichen deuten, dass die spirituelle Kraft der Weissen Büffelfrau eine (weltweite) Auferstehung erlebt, die nicht nur den amerikanischen Kontinent, sondern die ganze Erde erfasst.



Realität und Vision

Die Realität der meisten heutigen Lakota-Indianer ist allerdings absolut unspirituell. Insofern also sehr vergleichbar mit der Situation hier bei uns. Im Unterschied zum Leben in der konsumverwöhnten reichen Schweiz ist eine Existenz im Indianerreservat jedoch von existenzieller Armut und Hoffnungslosigkeit geprägt. Depression und Überlebenskampf scheinen nurmehr dem skrupellosen Egoismus freie Bahn zu lassen. Es sind nur Wenige, die sich für die alten Wege interessieren. Für den „roten Weg“, der sich an den zirkulären Rhythmen von Natur und Kosmos orientierte, abgebildet im Medizinrad, dem Kreuz im Kreis. Übrigens das universelle Symbol für die Ordnung von Himmel und Erde. Jedes Horoskop ist auf dieser Grundstruktur aufgebaut. Sie kann in Europa nachgewiesen werden bis zurück in die Altsteinzeit. Solche Ur-wahrheiten können nicht aussterben, auch nicht in Krisenzeiten. Es ist besonders bemerkenswert, dass schon der grosse indianische Führer Crazy Horse in einer Vision sah, wie in einer zukünftigen Welt die alten Riten, die bereits endgültig gestorben schienen, wieder neu zum Leben erweckt würden von Indianern UND Menschen anderer Kulturen! (siehe Wassermannzeitalter > neue soziale Strukturen und grenzübergreifende Gruppierungen Geistes-Verwandter)



Vision Quest

In einer spirituellen Kultur waren Visionen nichts Ungewöhnliches. Doch wir können die alten indianischen Rituale, die über Tausende von Jahren tradiert wurden, nur als Weisse durchführen und erleben. Wir sind keine Indianer, auch wenn unsere Seelen vielleicht einstmal dort inkarniert waren. Heute sind wir naturentfremdet und verweichlicht. Bei einer streng traditionell durchgeführten viertägigen Hanbleceya („Ich weine um ein Gesicht“) würden wir wohl allesamt jämmerlich draufgehen. Es ist kein Kinderspiel. Damals gingen sie nackt in die Natur, nur mit einem Bisonfell ausgestattet. Ohne Essen. Ohne Trinken. Kein Wunder hatten sie ihre Visionen! – Die heutige Variante unter Anleitung von Charly Juchler und Francis Whitelance ist uns Bleichgesichtern angepasst. Aber dennoch Herausforderung genug. Jede, jeder von uns trifft die Wahl, wie viele Stunden sie verbindlich in der Natur verbringt: 12 oder 24 oder 36 oder 48 (= höchstes Angebot). Länger geht keine und keiner. Na ja, fürs erste Mal reicht das auch. Das macht frau ja nicht gerade alle Tage. Schliesslich muss jede die Verantwortung für ihre Grenzen selber übernehmen. Es ist, wie wenn du auf einen Berg steigen willst: du selber entscheidest, ob es das Hörnli ist, der Säntis oder das Matterhorn.



Geist ist stärker als Körper

Fasten ist auch hierzulande als Heilsweg bekannt (die kranke Form ist Magersucht, aber davon ist hier nicht die Rede). Durch frühere Erfahrungen wusste ich, dass mein Körper problemlos mehrere Wochen ohne feste Nahrung auskommen kann. Auf jegliche Flüssigkeit verzichten ist jedoch eine andere Sache. Zumal in der trockenen Kontinentalluft Süddakotas. Da kannst du den ganzen Tag trinken und musst kaum je zum Pinkeln. Wie soll das also gehen, zwei Tage ganz ohne?... Wohlweislich hatte ich meine Hausärztin nicht informiert. Ich wollte mir keine Zweifel einimpfen lassen von irgendeiner Wissenschaftlichkeit. Mein Entschluss stand fest: 36 Stunden (wobei das Fasten schon vorher beginnt). Unmittelbar vor der Hanbalecekia muss in der Schwitzhütte der Entscheid bekräftigt werden, in voller Eigenverantwortung. Im heissen Dampf des Inipi, dieser Nachbildung der Gebärmutter, wo Energien des Lebens generiert werden (eine vergessene Erinnerung an die einstige weibliche Spiritualität). Danach darfst du das Ritual nicht abbrechen (ausser in absoluter Not). Verbindlichkeit ist angesagt, egal ob’s in der Nacht dann gewittert oder was auch immer. Dank der unmittelbar vorangehenden Kälte (ca. 5°C nachts) wurde uns erlaubt, was Warmes anzuziehen. Usus wäre sonst nur gerade ein Trainer und eine Decke. Sonst nichts. Barfuss.



In der Natur

Ich hatte meinen Platz ziemlich weit draussen gewählt, im Forest Service. Nicht weit entfernt vom Ort, wo ich zwei Tage zuvor fast auf eine Klapperschlange getreten wäre. Es gibt auch Pumas in den Wäldern. Am Morgen des ersten Tages wurde ich hinausbegleitet. Der Platz um mich herum wurde abgesteckt in den vier Himmelsrichtungen und „eingezäunt“ von den 405 an einem roten Garn aufgeknüpften Tabakbeutelchen. Inklusive den sechs Flaggen, einem Zentralstab und einer Schale mit Wasser und Fleisch (die selbstverständlich nicht angerührt werden dürfen, diese Speise ist für die Geister), sowie einem Messer für Notfälle. Dieser Platz darf nicht verlassen werden. Mit dem entsprechenden Gesang rief Charly die Mächte der vier Richtungen. Danach wurde ich allein gelassen. Endlich allein. Ich war froh. Fühlte mich geborgen. Das dichte Gruppenprogramm der vorangegangenen Tage war mir fast zuviel geworden. Nun hatte ich Zeit. Zeit für mich, für meine Gebete, für die sichtbare und unsichtbare Welt um mich herum.



Love and trust (Refrain eines Liedes von Jim Boyd)

Das abgesteckte Geviert ist ein spirituell geschützter Ort. Selbst Blitze schlagen nicht ein, weil die Zedernäste an den vier Ecken den Platz vor den Donnervögeln schützen. Ich war dennoch froh, als am zweiten Tag die Gewitterfronten sich vor mir teilten und links und rechts vorbeizogen. Sie überliessen mich einem gnädigen Regen, der mich von der Sonnenbrandhitze des Nachmittags erlöste. Alles wurde nass. Aber da ich mich nur für 36 Stunden verpflichtet hatte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen vor einer langen Nacht in Nässe und Kälte. Über die Erlebnisse einer Hanbalecekia spricht man nicht. Sie sind privat. Doch soviel kann ich berichten: ich werde es nie vergessen. Die Tiere kamen. Hunger oder Durst waren kein Problem; das nächste Mal würde ich es länger wagen. Das Erlebnis war stark. Es hat mich von innen her gestärkt. Meine Vorstellungen von Grenzen erweitert. Es war magisch.



Schutz des Rituals

Dennoch würde ich niemanden empfehlen, so eine Unternehmung ohne den Schutz eines haltgebenden Rituals mit den dazugehörenden Gebeten durchzuführen. Durch die vorgeschriebenen Vorbereitungen wurden die Gedanken auf das Ziel ausgerichtet. Power of Mind. Durch die Gebete wurden Schutzkreise kreiert. Das darf nicht unterschätzt werden, auch wenn unsere äusseren Augen nicht sehen, was im Unsichtbaren geschaffen wurde. Eine Hanbleceya kann dich an deine Grenzen bringen. Für solche Grenz- und grenzüberschreitenden Erfahrungen sind in allen Kulturen religiöse Rituale überliefert, rund um den Erdball. Sie hatten wohl meistens mal eine Anfangsberechtigung, auch wenn sie später zu machtpolitischen Zwecken missbraucht wurden. Die neue Freiheit nach den langen Zeiten religiöser Zwänge und Fremdbestimmungen schmiss die meisten Rituale unserer eigenen Kultur weit fort. Zurück blieb das weite Feld der Orientierungslosigkeit. Heute leben wir in einer Zeit (zumindest in der Schweiz), wo wir die Freiheit geniessen, über diese Dinge laut nachdenken zu dürfen. Wo wir selber entscheiden können, was für Rituale wir wollen und welche uns gut tun. Sie sind ein Grundbedürfnis menschlichen Seins. Abläufe und Details lassen sich kreativ gestalten. Doch wir brauchen sie, das steht ausser Frage.



Reden und Realität …

Die Reise nach Süddakota hat sich gelohnt, in mehrfacher Hinsicht. Dennoch schmerzt die Tatsache, dass all die starken Rituale einst weiblicher Spiritualität nur noch in den Händen von Männern geblieben sind. Die heiligen Orte der Lakota, die wir besuchten („Bear’s Butte“, „Devil’s Tower“), sind alle verbunden mit einer reichen Sternbildmythologie (z.B. der Grossen Bärin und der Plejaden) und sind allesamt steinerne Naturzeugen einer ursprünglich zutiefst weiblichen Spiritualität. Doch daran will man(n) sich heute nicht mehr erinnern. Auch wenn ihre Reden wohlklingend tönen, das Verhalten einiger Männer spricht eine andere Sprache. Worte und Tatsachen… Da steht noch ein weiter Entwicklungsweg bevor! Ich beobachtete eine unglaublich grosse Angst vor der Macht weiblicher Spiritualität. Sie wird verschwiegen, marginalisiert, beschnitten, lächerlich gemacht, ausgegrenzt oder zu den Sternen hinauf verbannt. Doch von dort kommt sie wieder zurück!



Krieg und Frieden

Bei allem Respekt vor den Persönlichkeiten und dem Engagement der Künstler, Medizinmänner, Führer und anderer spirituell ausgerichteter Männer, die wir auf dieser Reise kennen lernten: es sind Männer. Naturgemäss sehen sie alles nur aus ihrer Sicht. Ihr Denken wird (mit löblichen Ausnahmen) zu oft noch geprägt von Sex, Imponiergehabe und Respektlosigkeit vor Weiblichkeit und Natur. Diese Kombination kann im Konfliktfall Krieg entzünden, das zeigt die Erfahrung der Geschichte. Männer scheinen sich (noch) nicht aus dem Gefängnis ihres patriarchalen Ego erheben zu wollen. Ihre Worte mögen überzeugend klingen, ihr Verhalten spricht oft genug eine gegenteilige Sprache. Als Frau empfand ich diese auffällige Diskrepanz und die Einseitigkeit männlicher Perspektive sehr ausgeprägt. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass Frieden, Versöhnung und Heilung auf der Erde durch das weibliche Geschlecht kommen werden, bzw. durch sogenannt weibliche Denk- und Verhaltensweisen.



Was es braucht

Männer können für Frauen keine Wege schaffen. Es besteht die ganz grosse Not-Wendigkeit, dass Frauen für Frauen die Wege weiblicher Spiritualität wieder zum Leben erwecken (mal ganz abgesehen davon, dass auch die Männer eine Grosse Mutter bräuchten! Denn leider projizieren sie ihre diesbezüglichen Sehnsüchte meistens auf irdische Frauen). Nach den Pionierinnen auf der politischen Ebene braucht es nun dringend die Pionierinnen auf der spirituellen Ebene. In diesem Sinne, liebe Frauen, habt den Mut, eure Visionen zu verwirklichen. Nicht die männlichen Erwartungen sollen unser Massstab sein, auch wenn sie noch so spirituell formuliert werden. Wir brauchen unsere eigenen unabhängigen Rituale. Wartet nicht darauf, bis andere es vormachen. Tut es selbst! In Liebe, Verantwortung, Freiheit. Jede Handlung kreiert Energie. Damit eure Töchter und Enkelinnen wieder Spuren finden.

Literaturtipp:
„Walking in the sacred manner“, by Tilda Long Soldier und Mark St. Pierre
Eines der wenigen Bücher über die Erinnerung an die alte weibliche Spiritualität bei den Lakota-Indianern und die Hoffnung auf ihre Wiedergeburt.


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