Grosser Streit um ein kleines Stück Stoff

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Das muslimische Kopftuch. Bild: Daniel Winkler
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Das Kopftuch in der schweizer Werktagstracht. Bild: viceland.ch

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Der Kopftuchstreit zieht in Europa immer weitere Kreise. Nach Deutschland, Frankreich und Italien stören sich nun vereinzelt auch in der Schweiz die Schulen am kleinen Stück Stoff. Ziel ist die Verbannung der muslimischen Kopfbedeckung zum Wohl der Mädchen und Frauen. Soll ein Verbot den Mädchen helfen, oder ist es lediglich ein Zeichen der Angst gegen eine wachsende Islamisierung und ein Mittel, von den wahren Problemen mit der Jugend abzulenken?

 

Carmela Maggi

14:10:2010

 

Mädchen sollen sich frei fühlen

Alice Schwarzer nennt das Kopftuch, der Hidschab sowie Tschador, getragen von Frauen im gebärfähigen Alter, die „Flagge des Islamismus“. Diese muss, ihrer Meinung nach, aus deutschen Schulen verschwinden, denn die Mädchen sollen sich frei fühlen und integrieren dürfen.

Frankreichs und Italiens Politiker gehen noch viel radikaler vor und wappnen sich gegen jede Gegenwehr. Zwar verbieten sie als Deckmantel jegliche religiös-rituelle Kopfbedeckungen in öffentlichen Schulen. Doch gemeint ist damit eindeutig die Verbannung der muslimischen Kopfbedeckungen.

 

Passt euch gefälligst an!

In letzter Zeit stossen auch einige Schweizer Schulen, gestärkt durch das klare „Volks-JA“ für das Minarettverbot, weiter vor und streben ebenfalls nach dem Kopftuchverbot. Ganz nach dem Motto; „Wenn ihr bei uns leben wollt, passt euch gefälligst an!“, wagen sie sich bis an die Grenze der verfassungsmässigen Religionsfreiheit. In Bad Ragaz etwa sorgte eine einzige Schülerin, die sich das Kopftuch nicht verbieten lassen wollte, für hitzige Köpfe. Die Schule wurde in diesem Fall durch die regionale Schulaufsicht zurückgepfiffen.

 

Das Kopftuch unserer Mütter und Grossmütter

Bei all den Streitereien wird oft vergessen, dass auch die christlichen Frauen vor  wenigen Jahren mit Kopftüchern, die zahlreiche Trachten ergänzen, gekleidet waren. In Italien hüllen sich auch heute noch vielerorts Frauen zum Kirchgang in ein Kopftuch. Vergessen wir nicht die Nonnen und Mönche, die unserer Glaubensrichtung entstammen und weltweit durch ihre Verhüllung die Heirat mit Christus demonstrieren. In den katholischen Sekundarschulen tragen Lehrerinnen mit Gelübde nach wie vor die rituelle Kopfbedeckung. Mit dem wachsenden Wohlstand der Industrialisierung nach 1900 und nicht zuletzt der darauf folgenden Amerikanisierung, gekoppelt mit der sexuellen Revolution der Sechziger, wichen die traditionellen Bekleidungen nach und nach einer neuen Mode und zeigten offenes Haar, Busen und Bein als Zeichen der Gleichstellung und Befreiung der Frau. In wenigen Jahren hat die westliche Gesellschaft ein völlig neues Frauenbild erschaffen und schnell vergessen, dass die eine oder andere Mutter und Grossmutter aus christlichem Haus noch das Kopftuch trug, das an muslimischen Frauen heute so verpönt wird.

 

Angst ein schlechter Ratgeber

Doch die Kopfbedeckungen anderer Religionen sind derzeit in der Politik nicht das Thema. Worum es in Wirklichkeit geht, ist die Angst vor dem wachsenden Islamismus, der mit dem Kopftuchverbot entgegen gewirkt werden soll. Der Islam wird von vielen Andersgläubigen als aggressive und intolerante Religion empfunden und nach 9/11 ganz unkritisch mit Terrorismus und Gewalt in Verbindung gebracht.

Doch ist die Angst vor dem Unbekannten wirklich ein guter Ratgeber? Wer kennt nicht aus dem Bekanntenkreis muslimische Mitbürger und Einwohner, die um Integration bestrebt sind, in kleinen Schritten die strengen Regeln aus dem Koran hinterfragen und der neuen Zeit anpassen? Warum also nicht in der Nachbarschaft die Hand ausstrecken und eine Begegnung wagen, sei es nur eine Einladung oder ein Besuch eines andersgläubigen Kindes zum nachmittäglichen Spielen oder zum Abendessen unter Erwachsenen? Integration passiert auf beiden Seiten.

 

Emanzipationshilfe?

Fragt sich zudem, ob ein Druck von Aussen durch die Ämter nicht etwa das Gegenteil des beabsichtigten Ziels erreicht, vielmehr Versteifung und Trotzreaktionen verursacht und den Weg für die Lockerung und Gleichstellung, die bei der muslimischen Jugend ohnehin im Gange ist, verbaut und die gewollte Integration verhindert. Sollten Rebellion und Befreiungswille nicht eher aus dem Inneren einer Religionsgemeinschaft kommen, so wie es weltweit der Fall ist? Gäbe es statt eines generellen Verhüllungsverbots nicht den besseren Weg, Einzelfälle anzuschauen und, wo nötig, eine helfende Hand anzubieten? Wäre nicht ein freundschaftlicher und toleranter Umgang unter verschiedenen religiösen Kulturen wichtiger, auch wenn er Mut, Offenheit und eine gesunde Portion Neugierde und erfordert?

 

Den Blick auf wirkliche Probleme lenken

Bei all dem Gezanke um ein kleines Stück Stoff wäre es vor allem wichtig, den Blick nicht von den wesentlichen Jugend-Problemen abzulenken. Wie etwa der Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die wachsende Jugendgewalt, Littering und der Drogen- und Alkoholkonsum. Denn Verursacher dieser Missstände sind mit Bestimmtheit nicht unsere muslimischen Einwohner und Mitbürger.


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