Die Kubatur der Kugel - Wie Fussball die Welt der Wissenschaft rettet

Glosse

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Nur ein Fußballstadion oder der Nabel der Welt?
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Ein Halbzeit-Weckerl.
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EM-Maskottchen.

Selma Mahlknecht, 1979 in Meran geboren, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. Die Autorin von ostschweizerinnen.ch wohnt in Chur.

Ich bin schon ganz aufgeregt: Nur noch 180 Tage bis zur Fussball-EM! Wie, das interessiert Sie nicht die Bohne? Sie beobachten lieber den seltenen hundsköpfigen Birkenrotschwanz bei der Balz? Oder schreiben gerade Ihre Habilitation über das eingestrichene A in Mahlers Wunderhornliedern? Und da passt Fussball nun mal nicht dazu? Ein fataler Irrtum.

 

Selma Mahlknecht

08:12:2007

 

In diesem Artikel erfahren Sie, wie und warum ausgerechnet die Fussball-EM die Gelegenheit ist, auf die Sie schon immer gewartet haben.

Seien wir ehrlich: Es gibt Dinge, die interessieren keinen. Oder nur fünf Aufrechte auf drei Kontinenten. Die Erforschung des spätattischen Dithyrambenverses bei Doreion dem Jüngeren etwa. Dafür kriegt man kein Publikum, keinen Sendeplatz, vor allem: kein Geld. Höchstens eine lobende Erwähnung in Briefmarkengrösse auf Seite 243 unten im Jahrbuch der niedersächsischen Altphilologen-Stiftung.

Und dann gibt es Dinge, die interessieren jeden. Auch die, die sich gar nicht dafür interessieren wollen. Weil man nämlich gar nicht drum herum kommt. Fussball zum Beispiel. Selbst, wenn Sie nicht zu jenen gehören, die bei jedem Huster von
David Beckham um die englische Nationalmannschaft bangen, werden Sie schon das eine oder andere mitgekriegt haben. Immerhin sind Zeitungen, Radio, Fernsehen voll davon. Und daher wissen Sie auch, dass in Kürze der Höhepunkt der Hysterie erreicht sein wird: wenn nämlich die Medien zum Sturm auf die Euro 2008 blasen. Und da gibt es für einen aufgeweckten Wissenschaftler nur eins: den Fluchtimpuls unterdrücken. Und Trittbrett fahren.

Bei diversen Ansuchen um Stipendien und Förderungen haben Sie ja ohnehin gelernt, Zusammenhänge an den Haaren herbeizuziehen ("ja, natürlich hat meine Ikebana-Installation auch etwas mit Heinrich Heine zu tun"), warum also nicht auf den Wogen der allgemeinen Fussball-Begeisterung mitsurfen? Alles, was Sie brauchen, ist etwas Flexibilität. Und schon werden Sie merken, dass es beim Thema Fussball einfach nichts gibt, das es nicht gibt. Doreion der Jüngere? Sie beginnen Ihren Essay über die Schlachtgesänge griechischer Fans mit den Worten: "Wie wir es schon vom spätattischen Dithyrambenvers kennen...". Oder der hundsköpfige Birkenrotschwanz: Nistet er nicht in unmittelbarer Nähe eines Stadions? Gleich muss eine Untersuchung über die Veränderung des Balzverhaltens durch Licht- und Lärmeinwirkung her! Und so geht es munter fort.

Verhaltensforscher erstellen gefinkelte Psychogramme der beiden Maskottchen Trix und Flix, Sexualtherapeuten spekulieren in fünfseitigen Aufsätzen darüber, warum der EM-Pokal 2008 22 Zentimeter grösser ist als sein Vorgänger, und auch die Historiker kommen nicht zu kurz: Ganze Sonderbeilagen lassen sich mit der Geschichte des Schweizer Nationaltrikots seit Wilhelm Tell füllen.

Das Schöne an der nächsten EM ist ja, dass sie nicht nur in einem Land stattfindet, sondern gleich in zwei. Was da an wissenschaftlichem Potential frei wird! Die Beziehung des Appenzeller-Käses zu Franz Beckenbauer und umgekehrt, der Jodler und besonders der Juchiza als archaische Formen der Sportmoderation (der Weg von "I werd narrisch" zu "Ju-hu-hu-hui" ist nicht so weit, wie er scheint!), das Potential von Apfelstrudl und Powidltasche als Brezel-Ersatz – hier liegt ein schier unermessliches Feld brach, das es zu beackern gilt!


Ein Aufatmen geht durch die Universitäten, frischer Wind weht durch die Aulen: Entspannte Germanisten rüsten sich für den Forschungsstreit um das erste Elfmeter-Sonett, fröhliche Statistiker debattieren über die Wahrscheinlichkeit eines frühen Rückstandes der deutschen Mannschaft bei Südwind, und in der Fakultät für Linguistik redet man seit Wochen nur noch über die etymologische Paradoxie der Begriffe "tschutten" und "Wuchtel". Und es ist auch kein Wunder, dass alle so ausgelassen und aufgeräumt sind.

Endlich hört ihnen jemand zu, endlich werden sie ernst genommen. Jetzt hat es sich also doch gelohnt, das "Orchideenstudium", vor dem Verwandte, Freunde und Norbert Blüm immer gewarnt haben, jetzt ist man kein abwegiger Sonderling mehr, wenn man tagelang über die Kubatur der Kugel nachdenkt. Denn genau darum geht es doch beim Fussball oder vielmehr bei diesen Grossereignissen, bei denen nebenbei angeblich auch noch irgendwo Fussball gespielt wird. Das sind Mega-Events, bei denen die halbe Welt zuschaut und die andere Hälfte in hungrigen und durstigen Scharen herbeiströmt.

Diese einmalige Gelegenheit will sich niemand entgehen lassen. Da wird vom Halbzeit-Weckerl bis zum magischen Ergebnis-Festhalte-Stift alles nur noch im Zeichen des Sport angeboten. Dass dieselben Dinge nach den Spielen wieder "Sesambrötchen" und "Kugelschreiber" heissen, ist völlig zweitrangig.

Wie, das finden Sie irgendwie nicht in Ordnung? Das ist alles nur billige Geschäftsmacherei? Damit wollen Sie nichts zu tun haben? Sie träumen von einem sauberen Sport, wo es nur um die Leistung geht und nicht um die Frisuren der Spieler und die Krawatten der Trainer? Dann wachen Sie auf! So läuft der Laden nun einmal. Und ob es Ihnen passt oder nicht: Das ist Ihre Chance! Missbrauchen Sie sie!

Aber beeilen Sie sich, bevor das Organisationskomitee Ihre Bemühungen unterbindet. Demnächst ist nämlich Schluss mit dem EM-Burger vom Würstlstand um die Ecke. Dann gibt es nur noch von der UEFA lizenzierte EMBurger, und auch die nur noch bei den offiziellen Sponsoren der Endrunde. Ja, als Trittbrettfahrer hat man’s nicht einfach. Da hofft man endlich auf ein bisschen Aufmerksamkeit, ein klein wenig Zuwendung, schon wird man mit Verboten und Unterlassungsklagen hinweggefegt. Deswegen publizieren Sie Ihre bemerkenswerte Abhandlung über die spielbestimmende Bedeutung der richtigen Schnürsenkel besser so rasch wie möglich, sonst könnte es sein, dass Adidas solche Veröffentlichungen verbieten lässt. Oder noch besser: Sie steigen direkt bei Adidas ein und werden offizieller Forschungsbeauftragter. Wenn Ihnen das gelingt, sind Sie gemacht. Dann steht Ihnen das gesamte Spektrum der turnschuhrelevanten Themen offen (und mal ehrlich: was ist heutzutage nicht mehr turnschuhrelevant?).

Sie müssen nur aufpassen, dass Sie immer die richtigen Schlüsse ziehen und jede Publikation mit dem Satz "und deswegen ist Adidas auch hier allen anderen voraus" beschliessen. Und das Schöne: Das Ganze wird ein Selbstläufer. Denn nach der EM ist es noch lange nicht vorbei. Sie wissen ja: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Sie sehen also, der Sport ist die letzte Bastion der Wissenschaften. Wer hier den
Anschluss verpasst, riskiert ernsthaft den Hungertod oder ein schmähliches Ende als Putzmittel-Vertreter. Überlegen Sie es sich gut. Aber Achtung: Ihnen bleiben nur noch 180 Tage...


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