Novemberzeit ist geprägt vom Zeichen Skorpion und seinem Planeten Pluto, von Kali, Schlangenfrau und Schwarzer Madonna. Gleichzeitig finde ich es stimmig, der so viel geschmähten Lilith unsere Gedanken zu widmen und ihre Stellung in der modernen Astrologie kritisch zu hinterfragen.
Patricia Ertl
11:11:2009
Die astrologische Lilith ist kein Planet, sondern ein gedankliches Abstraktum, nämlich der zweite Brennpunkt der elliptischen Umlaufbahn des Mondes um die Erde (im ersten Brennpunkt steht die Erde), von daher wird sie auch „Schwarzer Mond“ genannt. Es gibt verschiedene Berechnungsarten dieses Punktes und viel Uneinigkeit darüber, welches nun tatsächlich die richtige sei. Auf diesen äusserlich leeren Brennpunkt senden Astrologinnen und Astrologen seit einigen Jahren alle möglichen Projektionen ihres Bewusstseins um diese Gestalt. Ich lese ihre Veröffentlichungen und verfolge diese Entwicklung mit kritischer Distanz. Gleichsam als „Zwischenstation“ auf diesem Weg möchte ich einige Gedanken zum Thema zur Diskussion stellen:
Wie kommt es, dass in der modernen Horoskopdeutung Lilith dermassen negativ definiert wird? Einerseits soll sie Botschafterin für die Gleichberechtigung der Frau sein, andererseits wird sie mit äusserst ambivalenten Deutungen besetzt. Ich zitiere dazu einen Text von Hajo Banzhaf aus dem aktuellen „Astrologie Heute“- Magazin (Oktober/November 2009), wo er Lilith mit der 13. Fee in einem Schloss vergleicht:
„Sie gilt als böse, hinterhältig, falsch und durchtrieben, als Plagegeist und Nachtdämon. Deshalb würde man sie am liebsten vergessen, aber sie macht sich immer wieder bemerkbar und rächt sich, indem sie schwarze Galle spuckt.“
Eine namhafte führende Schweizer Astrologin schreibt über Lilith: „Wenn es der Lilith-Frau nicht gelingt, das Männliche in ihre Macht zu bringen, macht sie kurzen Prozess. Sie wendet sich entweder ab und geht eigene Wege oder bestraft das Männliche für seinen ungebührlichen Widerstand“ – Sie stellt Lilith als machthungrige Frau dar, der es nur darum geht, im Geschlechterkampf den Mann zu unterwerfen und selber zu dominieren. Sie behauptet, dass Männer ihre Potenz verlieren, wenn sie sich in den Dienst der angebeteten Göttin-Frau stellen, und beschreibt das als „matriarchale Muster“.
Ob so viel Unkenntnis über matriarchale Muster kann ich nur staunen. Es stellt sich die Frage, inwiefern solche modernen astrologischen Zuschreibungen überhaupt etwas mit der mythologisch überlieferten Lilith zu tun haben. Doch schauen wir selbst und werfen wir einen Blick auf die Geschichte von Lilith, die in der jüdischen Überlieferung als Adams erste Frau gilt, bevor er sich mit Eva zusammentat:
Lilith war einst die sumerische Himmelsgöttin. Sie hatte ursprünglich keinen Gemahl, was auf ihre unabhängige Schöpferinkraft hinweist. Gemäss Barbara Walker ("Geheimes Wissen der Frauen") wurde sie noch 2000 v. Chr. als geflügelte Himmelsgöttin dargestellt (siehe Burney-Relief: Urgöttin Lilith als Herrin der Tiere).
Der Ursprung der geflügelten Himmelsgöttinnen ist die Grosse Vogelgöttin der Jungsteinzeit, die das kosmische Ei legt, aus welchem alles Leben kommt. Viele matriarchale Göttinnen erscheinen in Vogel-Gestalt. Die Flügel waren Symbole ihrer über-irdischen Potenz. Später sind Vögel oder Flügel ihre Attribute, z.B. die Eule der Athene, die Taube der Aphrodite (später der Heilige Geist der Christen), die Raben der Hexe, die sprechenden Vögel in Sagen und Märchen u.s.w.
Auf einer Tafel aus Ur (ca. 2000 v. Chr.) wird Lilith mit Namen Lillake angesprochen. Sie scheint zurückzugehen auf die sumerisch-babylonische Göttin Belet-ili oder Belili. Im Vorderen Orient (Kanaan, Syrien, Phönizien) war sie Ba’alat, die „heilige Herrin“, und wurde dargestellt mit vollen Brüsten.
Vielleicht gibt es auch eine Verbindung zur etruskischen Göttin Leinth, die „kein Gesicht“ hatte und am Tor zur Unterwelt wartete, um die Seelen der Toten zu empfangen. Das Tor zur Unterwelt war eine Yoni oder auch eine Lilie. Der Einlass in die Unterwelt wurde in der Mythologie oft auch als sexuelle Vereinigung betrachtet (vgl. Skorpion-Thematik). Die Lilie oder lilu (Lotos) war die Blumenyoni der Grossen Mutter, die Blume der Lilith.
Doch in der hebräischen Tradition wird Lilith, die ursprüngliche geflügelte Himmelsgöttin, reduziert zur ersten Frau des lehmgemachten Adam (der einst von ihr als Göttin selbst geschaffen wurde, also eigentlich ihr Menschenkind ist).
Im jüdischen Volksglauben hatte Adam Lilith geheiratet, weil er sich nicht mehr mit Tieren paaren wollte. Doch als Adam versuchte, Lilith zu zwingen, unter ihm zu liegen („Missionarsstellung“), wollte sie nicht die Unter-legene sein. Sie verhöhnte seine sexuelle Grobheit, verfluchte ihn und flog weg zum Roten Meer, wo sie sich niederliess. (Das Rote Meer kann als Vulva der menstruierenden Göttin gesehen werden). Da sandte Gott Engel aus, sie zurückzuholen. Doch Lilith folgte dem patriarchal-göttlichen Befehl nicht und verbrachte statt dessen ihre Zeit damit, sich mit „Dämonen“ zu paaren (was ihr offenbar mehr Spass machte!) und haufenweise Kinder zu gebären. So sah Gott sich gezwungen, Eva als zahmeren Ersatz für Lilith zu erschaffen.
Die Geschichte enthüllt, dass Lilith die Grosse Mutter der Ackerbau treibenden Stämme war, die sich den Adam repräsentierenden patriarchalen Hirtenvölkern widersetzten. Lilith wehrte sich dagegen, Adam unter-legen zu sein, das heisst mythologisch übersetzt, die matriarchale Göttinkultur wehrte sich gegen die Unter-werfung durch die patriarchalen Kulturen.
Vom Patriarchat wird Lilith dann verteufelt zu einem Nachtmahr: es hiess von ihr, dass sie eine Bedrohung für Kinder sei: sie käme des Nachts in verschiedener Gestalt als Nachtdämonin, um die Kleinen in ihren Betten zu erdrosseln.
Die einstige Schöpfungsgöttin wird dämonisiert und als Todesgöttin definiert, die nur noch Verderben bringt. Es geht ihr letztlich also gleich wie der Lebensmutter Eva, die im Patriarchat als Projektionsscheibe für alles Böse in der Welt missbraucht wurde (wobei dies vor allem das Böse der patriarchalen Männer ist, die ihre eigene Schuld und „Erbsünde“ verdrängten und auf das Weibliche projizierten, so wie auch heute noch oft vergewaltigte Frauen zu Männer-verführenden Täterinnen gestempelt werden). Schlechtmachen ist bekanntlich eine wirksame Strategie zur Rufschädigung, auch heute noch.
Die Töchter der Lilith, die lilim, verfolgten dann die Männer noch tausend Jahre lang! Sie galten als lüsterne Dämoninnen, die sich gerne mit gotttreuen Männern in deren Träumen paarten: sie hockten sich auf sie und riefen so deren nächtliche Ergüsse hervor! Insbesondere bei den zölibatären Mönchen waren sie gefürchtet und verhasst... Bei den Griechen wurden sie Lamiae genannt oder Töchter der Hekate.
Die griechische Lamia „die Verschlingerin“ war ein Schreckgespenst für Kinder („Seid brav, sonst frisst euch die Lamia!“). Es heisst, Lamia sei ursprünglich eine Sterbliche gewesen, die in einer Höhle wohnte. Sie gebar Zeus mehrere Kinder. Doch die eifersüchtige Hera (Eva?) habe alle ihre Kinder (ausser Scylla) vernichtet. Lamia wurde wahnsinnig vor Kummer und begann darauf, die Kinder anderer Mütter zu stehlen und ihr Blut auszusaugen. In dieser Rolle vervielfältigte sie sich offenbar in der Vorstellung der Menschen und wurde zu den Lamien, die im Gefolge der Todesgöttin Hekate ihr Unwesen trieben.
Es gibt Forscher, die in der Gestalt der Lamia, die zur Hälfte Schlange ist (Unterleib!), ein Überbleibsel der kretischen Schlangengöttin sehen. Sie erscheint oft als Drache oder Ungeheuer. Gemäss B. Walker war Lamia der griechische Name der libyschen Schlangengöttin. Wahrscheinlich war sie eine Variante der babylonischen Lamashtu, der „Göttermutter“, welche als Schlange mit Frauen- oder Löwenkopf verehrt wurde.
Der Vulgata zufolge (= lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus um 405; v.a. in der katholischen Kirche gebraucht) war „Lamia“ eine Übersetzung des hebräischen Namens Lilith. In einer englischen Übersetzung von Jesaja 34,14 wird sie auch als „Schleiereule“ übersetzt oder als „Nachtungeheuer“. Im Mittelalter wurde Lamia dann der allgemeine Begriff für eine Hexe. Die Christen übernahmen die Lamien und nannten sie Höllenhuren oder Succubi, Nachthexen.
Es soll hier allerdings nicht verschwiegen werden, dass es in den weiträumigen geistigen Welten durchaus auch finstere Wesen gibt, die uns übel wollen. So mag es tatsächlich auch eine eine dunkle teuflische „Lilith“ geben (oder wie auch immer sie heisst), die uns aus niederen spirituellen Bereichen heimsucht, sofern wir sie rufen oder unsere Seelenprüfungen diese Begegnung vorsehen. Wenn wir schwere Schicksalsschläge erleiden mussten, mit Aggression, Gewalt, Grausamkeit, Zerstörung, Ohnmacht konfrontiert wurden, neigen wir oft genug zu den bitteren Gefühlen von Hass und Rache. Dann wollen wir zurückschlagen, die Täter bestrafen oder gar vernichten. Einst haben wir vielleicht sogar zornige Flüche ausgestossen und dafür die Macht der dunklen Wesen angerufen oder sie dadurch angezogen. Lasst uns bedenken, dass wir mit unversöhnlichem Hass in erster Linie uns selber Schaden zufügen, auch wenn es noch so viel berechtigten Grund für unsere Emotionen gibt. Mit Verständnis und Liebe uns selber gegenüber können wir diese gefährlichen psychischen Verhärtungen wieder lösen, weicher werden und die mentalen Gifte wegfliessen lassen. Und dafür brauchen wir die Hilfe der „Licht-Lilith“, der Göttin ursprünglicher weiblicher Lebensmacht!
In der heutigen psychologisch-astrologischen Literatur wird Lilith vorwiegend patriarchal-negativ gedeutet. Wo immer sie wirksam wird, gibt es Probleme. Sie gilt als der „Schatten Evas“, als das Gegenteil der auf Harmonie bedachten Venus. Es heisst, sie sei die dunkle, zerstörerische Urform des Weiblichen, so quasi das geheimnisvolle schwarze Urweibliche, das heute aus den Tiefen der kollektiven Verdrängung wieder auftaucht. Eine unerbittliche Urkraft, die aus unserem Unbewusstsein komme.
Sie wird beschrieben als unberechenbar, rachsüchtig, düster, wütend, grausam, rebellisch und kompromisslos. Als Hass, Neid, Eifersucht und dunkle sexuelle Phantasien. Statt sich anzupassen ist sie auf bewusste Selbstverwirklichung aus. Wo sie auftaucht kommt es zu Beziehungsdramen, Machtkämpfen und seelischen Verstrickungen. Zu ihrer Thematik gehört das Totschweigen, tabuisieren und ausgrenzen. Gleichzeitig erscheint sie von faszinierendem Selbstbewusstsein, eine autonome, unheimliche Gestalt, die es wagt, sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinwegzusetzen. Sie wird sogar als „weibliche Kraft der Seele“ bezeichnet. Oder im Jung’schen Sinne als der weibliche Schatten der nicht integrierten Anima.
Es ist wirklich unglaublich, was alles auf diesen abstrakten Punkt projiziert wird. Wenn ich in Astro-Zeitschriften und Fachbüchern all diese Zuschreibungen lese, stelle ich folgendes fest:
- Lilith wird immer noch dämonisiert. Sie ist quasi die böse Hexe im Horoskop.
- Die auf sie projizierten Eigenschaften sind höchst ambivalent und widersprüchlich.
Die gängigen Definitionen Liliths in der zeitgenössischen Astroszene zeigen, dass unsere Gedankenmuster noch immer massiv von patriarchalen Wertungen und Ängsten geprägt sind. Was über Lilith gedacht wird, sind Umkehrprojektionen patriarchaler Dominanzwünsche. Mit der zentralen Botschaft von Gleich-berechtigung und eigener kreativer Schöpferinnenkraft hat es nichts zu tun.
Meiner Ansicht nach ist der Punkt, der in der heutigen Astrologie als Lilith bezeichnet wird, ein Brennpunkt für das kollektive Bewusstsein unserer Übergangszeit vom finsteren Patriarchat in ein (hoffentlich) helleres Zeitalter der Gleichberechtigung beider Geschlechter. Sie hat eine psychologische „Krücken“-Funktion, weil wir tatsächlich in einer enormen Wendezeit leben, in der viele verdrängte Inhalte unserer Psyche wieder zum Vorschein kommen, insbesondere die unbewussten Aspekte weiblicher Macht, die Angst und Unsicherheit hervorrufen. Offensichtlich brauchen wir solche Übergangsgestalten, auf die wir all die widersprüchlichen und verworrenen Bilder projizieren können, die in solchen Zeiten in uns auftauchen, Mischformen aus verschiedenen Zeitschichten und Bewusstseinsebenen.
Mit der mythologisch-historischen Gestalt der wirklichen Lilith haben diese modernen Deutungen allerdings nur wenig zu tun. Oft sogar provozieren sie das Gegenteil und sind sich selber nicht bewusst, in welch erzpatriarchalen Denk- und Bildermustern sie dabei noch verharren. Es kommt mir vor wie eine Wiederholung der mittelalterlichen Hexenbilder, die vorwiegend aus Angst und Abwehr und Unverständnis stammen. Und aus Unkenntnis der historischen Hintergründe. Es sind Zerrformen, die zeigen, was wir fürchten. Sie spiegeln unsere eigene Psyche.
Ja, wir brauchen neue Gefässe für die seit Jahrtausenden verdrängte Symbolik der weiblichen Kraft. Aber wenn wir wollen, dass diese schöpferische Energie sich zu lebensförderlichen Formen entwickelt, sollten wir positive Bilder und Deutungen für sie wählen. Modelle dafür finden wir in den matriarchalen Mythen zur Genüge. Für die Bilder der Zukunft sind wir aber auch herausgefordert im verantwortungsvollen bewussten Gebrauch unserer eigenen Kreativität. Denn die Bilder, die wir kreieren, sind die Energie, welche die Lebensformen unserer künftigen Welt aufbaut!
Lilith verkörpert die Kraft der Weiblichkeit, die sich nicht länger vom Patriarchat unterdrücken und kontrollieren lassen will. Seien wir achtsam, dass wir nicht die patriarchalen Muster von Macht und Zerstörung auf sie projizieren, das wäre der falsche Weg und führt nicht in eine positive Zukunft. Für Konzepte weiblicher Lebensmacht brauchen wir keine neuen „Punkte“ im Horoskop, sondern dafür ist es nötig, das Horoskop wieder als GANZHEIT zu erkennen. In diesem Sinne ist die urweibliche schöpferische Kraft in jedem Tierkreiszeichen und jedem Planeten zu finden, im Kreis des Ganzen und Vollständigen, im „Tierkreis der Göttin“.