Über Gratiszeitungen und Pendler

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20 Minuten, Blick am Abend, News oder .CH: den Gratiszeitungen entkommt kein Pendler!
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Haben Sie auch Ihren "Papierpanzer"?

Die Autorin dieses Artikels hat mittlerweile die letze kulturelle Hemmschwelle überschritten und liest selber täglich Gratiszeitungen.

Die Schweiz wird mit immer mehr Gratiszeitungen überflutet. Die neuen Blättchen sind quietschbunt, immer topaktuell und ähneln sich stark. Die angebotenen Informationen sind entweder Meldungen aus Polizeifunk und Politikmagazin oder bestehen aus absolut unnützem Wissen der "Celebrities und Promis". Es stellt sich aber die Frage: Wie viele Gratiszeitungen braucht die Schweiz? Und wozu überhaupt?

 

Nina Nuhodzic

28:08:2009

 

Man kann sich ja so gut wie ein Chamäleon in seine Umgebung integrieren, aber das Wetter in der Schweiz versteht mein Imunsystem einfach nicht. Und noch etwas ist mir immer noch nicht geheuer nach fast 4 Jahren: Gratiszeitungen! Aber darüber kann man später lesen und staunen.

 Ich vermisse einen richtigen Sommer, eine Jahreszeit, bei der man in der Sonne fast verdampft, einen blauen Himmel mit Garantie und keine Regenschirme in der Tasche. Sommer in  der Schweizer Hauptstadt fühlt sich selten entspannend an. Geschäftige Anzugträger hetzen mit hochroten Köpfen und von einem harten Kravattenknoten gewürgt durch die City, Mütter hetzen plärrende Kinder in Crogs durch Bus und Bahn, glühende Zeigefinger, die aus Mutterliebe immer ein "Nein" bedeuten, Senioren mit Nordic-Walking Stöcken, die vor Lebenskraft strotzen und ihren Ruhestand sichtlich genießen.

Die Schattenseiten des Sommers in der Stadt sind sicherlich unangenehme Gerüche und Düfte, die einen in den öffentlichen Verkehrsmitteln fast erschlagen, man hält die Luft an und hofft auf seine Station. Das beklemmende Gefühl am Fenster zu sitzen, wenn sich ein stark verschwitzter Mitbürger in den Sitzplatz drängt, die ewige Frage "Ist da noch frei?", die etwa hundertfach während der Rushhour ausgesprochen wird. Und wieder sitzt man im Zug von A nach B, stört sich am Döner-Geruch und an Handyklingeltönen, an Menschen, die lauthals telefonieren und denen, die immer in letzter Sekunde merken, dass sie aussteigen müssen.

Mir ist aufgefallen, dass die Menschen in der Schweiz beim Zugfahren ihre Ruhe brauchen, jedenfalls meistens. Es wird von uns als Ausländer erwartet, dass wir das auch verstehen - nun ja, so einfach gestaltet sich die Idee, aber Tatsache ist, dass wir ganz anders reisen. In meiner Heimat existiert so etwas wie ein Fahrplan für Busse und ähnliches nur, um den Schein zu wahren. In Wirklichkeit steht man am Morgen auf und hofft, je nach Wetterlage, am Punkt B anzukommen. Berufsverkehr ist eine reine Humorquelle, es ist eine Art Sozialisierung. Es kam nicht selten vor, dass sich Damen zusammenschlossen, um einen Taschendieb mit der Handtasche zu verjagen, alle applaudieren. Oder der Luxus, den Busfahrer einfach so zu bitten, ausserhalb der Station anzuhalten.herrlich! Und noch etwas- in meiner Heimat ist reden mit den Busfahrer erlaubt, das gehört sogar dazu...

In der Schweiz merke ich eine kleine Distanz, es kommt mir vor als ob Gratiszeitungen nur deshalb so beliebt sind, weil die Menschen etwas brauchen, um sich nach Feierabend hinter etwas zu verstecken. Man kann sich hinter seinem bunten Papierpanzer verkriechen und muss sich nicht mit den vielen Gesichtern befassen, niemandem in die Augen sehen. Ein Segen oder ein Mangel?

Als unsichtbares Zeichen meiner Integration habe ich mich ungewollt an das Experiment mit dem Papierpanzer gewöhnt. Mit einem Unterschied - ich lese meistens Bücher, ist irgendwie entspannender als Polizeimeldungen und das Frauenbild gewisser Politiker.


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