Wintergast

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Elisabeth Binders viertes Werk
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Die Autorin.

Elisabeth Binder, geboren in Bürglen/Thurgau, Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich, vorübergehend Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der NZZ. Seit 1994 freie Schriftstellerin. Auszeichnung mit der Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie dem Förderpreis zum Mörikepreis, Fellbach.

 

 

Passend untermalt vom heftigen Wintertreiben, las Elisabeth Binder am 1. Dezember im Bodman- Haus Gottlieben aus ihrem neuen Roman „Wintergast“ vor. Die Veranstaltung wurde moderiert von der Literaturkritikerin Beatrice von Matt. Es ist Elisabeth Binders viertes Werk und wie Beatrice von Matt kommentierte, hat das Renommée der Autorin von Buch zu Buch zugenommen.

 

Franziska Elsaesser-Guggenbühl

06:12:2010

 

Schauplatz ist ein abgeschiedenes Bergdorf an der schweizerischen Grenze zu Italien, auf der Schattenseite des Tals, wo die Sonne im Winter nicht hinkommt. Die Bewohner gehen ihrem gewohnten, ereignisarmen Leben nach, im Hintergrund ihre eigenen, nicht immer leichten Erinnerungen und Sehnsüchte.

Doch dann, an einem Spätherbsttag, unterbrechen zwei Neuankömmlinge den Alltag.  Andreas, ein junger, nicht eben erfolgreicher Künstler aus der Stadt und ein Adler. Glücklos der eine, verletzt der andere. Andreas ahnt bei seiner Ankunft noch nicht, worauf er sich eingelassen hat. Den ganzen Winter soll er in einem herrschaftlichen Palazzo verbringen, um über seine Kunst nachzudenken. Doch die interessiert ihn zunächst gar nicht. Denn er ist nicht der einzige Gast. Ein kranker Adler wurde von der schönen Maddalena zur Pflege abgegeben. Der Raubvogel und die Frau ziehen ihn gleichermaßen in ihren Bann. Als an Weihnachten auch noch ein Kind verschwindet und damit das ganze Dorf in Aufruhr versetzt wird, findet sich Andreas unverhofft in einer Schlüsselrolle wieder, die ihn letztlich Teil einer Gemeinschaft werden lässt, die ihm zu Beginn völlig fremd erschienen ist.

 

„Der Wintergast“ ist ein stiller und beschaulicher Roman, voller Bilder und Symbolik, der sich mit Fragen auseinandersetzt, die uns nach der Lektüre nachhaltig beschäftigen. Es geht um wesentliche Lebensthemen, um unser aller tiefes Bedürfnis nach Sinnfindung, um die menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Vertrauen.

Es ist zudem ein Bergroman, der dem Klischee nicht entsprechen will. So etwa die Bergwelt, die sich verwandelt parallel zu den Menschen, die in ihr leben: zuerst toter Winkel, Exil, später dann Schutz bietender Zufluchtsort, grossartiges Versteck und schliesslich Ort der Heilung. Die Natur ist dabei nicht einfach blosse Kulisse, sondern aktiver Mitspieler. Und so entwickeln sich auch Andreas und der Adler Seite an Seite.

 

„Wintergast“ kann als Entwicklungs- oder Erziehungsroman bezeichnet werden, mit Andreas in einer Doppelrolle. Einerseits erfährt er - von der Hochglanz-Designer Kultur herkommend - als Parsifal auf der Suche nach seinem eigenen Gral die Wirklichkeit erst beim Überschreiten persönlicher Grenzen. Indirekt wird hier auch der moderne Kunstbetrieb angeklagt, denn laut Autorin kann „Kunst nur aus dem engem, ungeschütztem Zugang zur Natur entstehen.“ Und andererseits ist Andreas auch Katalysator, der im Leben der verschiedenen Figuren etwas in Gang bringt.

 

Die Autorin beherrscht die Kunst des Erzählens - oder spielt mit ihr - beschreibt Details wie das Auge einer Kamera und versteht es, mit sorgfältig gewählter Sprache ganz bestimmte Atmosphären zu kreieren.  Dabei zeichnet sie  ihre Charaktere mit viel Gespür für Nuancen. Sie versteht es, ihre Figuren mit wenigen Worten zu umreißen und gleichzeitig auf deren Vielschichtigkeit hinzudeuten.

 

„Wintergast“ ist ein Roman, der uns sanft der Hektik des Alltags entführt und uns zu einem besinnlichen Spaziergang durch eine verschneite Winterlandschaft einlädt und gleichzeitig die Gelegenheit bietet, eigenen Gedanken nachzuhängen.


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