«Anno 1914» – Eine Zeitreise zum Anfang des letzten Jahrhunderts

13:08:2014

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Arbeiterfamilien hatten vor hundert Jahren nicht viel zu lachen.
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Dienstmädchen Lisa-Maria wohnt im Herrenhaus und ist für Küche, Haushalt und die Kinder zuständig.
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Die Fabrikantentochter wird gut geschult, um sich eine reiche Partie zu sichern.

Die Kritiken sind nicht überwältigend. Ein «grosses Gähnen» sei es, habe ich schon gelesen. Doch mich fasziniert nicht nur das Thema. Nein, auch die Sendungen sind interessant aufgemacht. Ich erkenne in vielen Rollen meine Vorfahren, die in der «Bally» arbeiteten. Die Grossmütter, davon eine aus sehr gutem, aber durch Todesfall des Vaters verarmtem Haus, musste sich den Lebensunterhalt als Dienstmädchen verdienen. Meine erste Arbeitsstelle hat mich als Sekretärin nach Perlen geführt. Die Papierfabrik, deren «leibeigenschaftähnliche Arbeiterführung» in einem Buch des Rebellen Niklaus Meienberg ihre Niederschrift fand, habe ich, blutjung damals,  1 : 1 erlebt. Ich, als eine der von Meienberg ebenfalls Befragten, fand in seinem Werk leider keinen Eingang, denn ich hatte es in Perlen so richtig gut und wurde in sehr schweren Zeiten immer gefördert und unterstützt. Wie in einer Familie halt. Der Patron war nämlich nicht bloss Chef, sondern vielmehr auch Vaterfigur. Es ist alles eine Frage der Perspektive!  Doch zurück zu «Anno 1914»: Die Sendung wirkt für mich lebensecht und spannend. Ich gebe nichts auf Kritiken von Menschen, die frei von Lebenserfahrung sind.

Die Zeitreise «Anno 1914» des Schweizer Fernsehens zeigt uns auf, wie hart der Alltag - und vor allem jener der Frauen - vor hundert Jahren war – und dies, obwohl dort kaum etwas vom beginnenden Ersten Weltkrieg zu spüren war. Im Zürcher Oberländer Weiler Juckern bei Bauma, und damit ganz am Rande der Ostschweiz, rattern für ein paar Tage wieder die Webmaschinen. Wir lernen die vierköpfige Arbeiterfamilie Büchi kennen, die erwachsene Tochter Milena und Lisa-Maria, die als Hausmädchen im Herrenhaus wirkt.

 

Cornelia Forrer

 

Mutter Jacqueline, die zehnjährige Alenka, der vierzehnjährige Merlin und Vater Bruno  wollen entdecken, wie eine Arbeiterfamilie vor hundert Jahren lebte. Ihre Verwandlung geschah im Fernsehstudio Zürich. «Ein Traum ist es, zu fühlen wie die Grosseltern lebten», so Kindergärtnerin Jacqueline, die zur Mutter und Arbeiterin umgestaltet wurde.  Beim Einzug per Handwagen und Karren ins Kosthaus der Fabrik, lernt die Familie Milena kennen, die für die Zeit von «Anno 1914» als erwachsene Tochter, die noch im gleichen Haushalt lebt, die Familie ergänzt. «Cool ist es», sind sich alle vorerst einig, zumindest bis sie sehen, dass im Arbeiterzimmer für fünf Personen nur vier Betten zur Verfügung stehen. Alenka wird am Boden schlafen müssen, denn sie wird «nur» die Schule besuchen und muss noch nicht zum Lebensunterhalt beitragen.


Der ständige Kampf ums Überleben nimmt gleich am ersten Arbeitstag schon seinen Lauf. Es ist kein Geld für Nahrungsmittel da und Vater Bruno wird am Abend beim Patron schon den ersten Vorschuss beantragen müssen. Eine kurze Einführung ins Handwerk - der Vater an der Webmaschine, die Mutter und die erwachsene Tochter als Tuchschauerinnen und Flickerinnen und Sohn Merlin als Werkstatthilfe – und schon kann es losgehen. Ob  alle ihren Lohn von 38 Rappen verdienen werden? Der Patron kann nämlich für Fehler und fehlerhaftes Verhalten freie Abzüge machen. Übrigens, der Vorschuss wird gewährt, doch wird dafür bald schon ein Kostgänger zur Familie stossen – und die zwanzig Franken Schulden werden Ende Jahr zur Rückzahlung fällig.


Mutter Milena ist die härteste Werkerin. Sie muss neben dem rund zehnstündigen Arbeitsalltag den Haushalt besorgen, die Familie zusammenhalten und aufbauen  und etwas Essbares auf den Tisch bringen – und dies mit ganz geringen Mitteln. Fleisch liegt für Arbeiterfamilien kaum drin und wird durch Linsen ersetzt. Und wenn Milena nicht aufpasst, wächst die Familie auch stetig an. Ein Pessar kostet zwei Tageslöhne und ist damit eine «Anschaffung» von der die Arbeiterfrau nur träumen kann, zumindest wenn es die religiöse Erziehung erlaubt.  Noch schlechter geht es nur dem Hausmädchen, denn es lebt in einer kleinen Kammer, direkt im Herrenhaus. Lisa-Maria wird in der Küche, im Haushalt und in der Kindererziehung für ein kleines Entgelt fast rund um die Uhr eingesetzt und hat nebst Erfahrung und Arbeitswillen auch sittliches Verhalten und eine moralische Lebenshaltung mitzubringen. Und kurz nach dem Vorstellen geht es auch gleich ans Werk.


Für die Unternehmerfamilie trägt die «Belle Époche» am ehesten noch den richtigen Namen.  Der erwachsene Sohn arbeitet in der Firma mit und hat grosse Expansionspläne, die er aber dem Patron vorerst noch «gut verkaufen» muss. Auch ein Auto soll her, um Distanzen einfacher hinter sich zu bringen und mögliche Partner beeindrucken zu können. Und sollte alles gelingen, fehlt dem Junior-Chef nur noch eines zum Glück: eine geeignete Partnerin. Ob die Serviertochter vom Löwen, die der stattliche Mann mit Schokolade verwöhnt, wohl die Richtige ist? Die Töchter des Patrons sind in Neuenburg im Internat und bereiten sich dort darauf vor, eine vorzeigbare Partie für reiche Unternehmersöhne zu werden. Da bleibt nur noch die Hausherrin, der es immer langweiliger wird. Ob sie sich aus lauter Frust und Sehnsucht nach den Töchtern so auf die Arbeitsleistung von Lisa-Maria konzentriert? Jedenfalls bleibt es spannend. Und Fortsetzung folgt immer wochentags auf SRF, direkt nach Schweiz Aktuell oder per Wochenschau an den Freitagen.

 


Hier geht es zur ersten  Wochenschau:


http://www.srf.ch/player/tv/anno-1914-die-wochenschau/video/anno-1914-die-wochenschau-vom-08-08-2014?id=5f4442f2-f748-41cd-9d7a-c9b7b20b5f8f

 

Daten und Fakten über die Schwerpunktsendungen:


http://www.srf.ch/sendungen/schweiz-aktuell/anno-1914-leben-wie-vor-hundert-jahren



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