Nicht mehr todgeweiht, aber immer noch diskriminiert

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Ein schöner Fall von Safer Sex.
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Tally Elfassi-Weijl setzt sich ein gegen Diskriminierung bei HIV. Bild: aids.ch

Die Zahl der Neuinfektionen mit HIV hat einen Tiefstand erreicht: Von 1997 bis 2010 sei sie um gut ein Fünftel (21%) auf 2,67 Millionen weltweit gefallen, heisst es im aktuellen Bericht des HIV/AIDS-Programms der Vereinten Nationen (UNAIDS).

Die Gesamtzahl der weltweit Infizierten und Erkrankten schätzte UNAIDS auf 34 Millionen. Rund 68% von ihnen (22,9 Millionen) leben in Afrika südlich der Sahara – einer Region, in der nur 12% der Weltbevölkerung leben.

Von dort gibt es nun aber positive Nachrichten: Immer mehr Menschen bekommen Medikamente, die das Virus unter Kontrolle halten.

In Osteuropa hingegen steigt die Zahl der HIV-Infektionen immer noch an: Der Bericht der Weltgesundheits-Organisation (WHO) zum Weltaidstag meldet Zuwächse von rund 250% seit Anfang des Jahrtausends.

Weltweit starben im vergangenen Jahr 1,8 Millionen Menschen an Aids. Therapien haben nach Schätzung von UNAIDS 700'000 weitere Tote verhindert.

In der Schweiz rechnet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) für dieses Jahr mit einer Stabilisierung der Neuinfektionen. In den ersten neun Monaten 2011 wurden mit 403 etwas weniger neue HIV-Diagnosen gemeldet als im selben Zeitraum des Vorjahres (439). Für das Gesamtjahr erwartet das BAG weniger als 600 Neuinfektionen (2010: 609).

Die weltweiten Erfolge aber scheinen gefährdet, wie aidsfocus.ch, die Schweizerische Fachplattform HIV/Aids und internationale Zusammenarbeit, berichtet. Weltweit hätten Geberländer ihre Budgets für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) gekürzt. aidsfocus.ch fordert die Schweizer Regierung zum Weltaidstag auf, "ihren Beitrag im Kampf gegen Aids zu leisten und die finanzielle Unterstützung des Globalen Fonds zu erhöhen".

Die Diagnose HIV ist heute kein Todesurteil mehr. Etwa 70% der Betroffenen können einer Arbeit nachgehen, die meisten mit einem Vollpensum. Trotzdem seien Diskriminierungen in der Arbeitswelt immer noch alltäglich, wie die Aids-Hilfe Schweiz kritisiert.

 

Christian Raaflaub, swissinfo.ch

01:12:2011

 

Michel Baudois ist seit 1996 HIV-positiv. "Ein HIV-positiver Mitarbeiter stellt im sozialen Umgang absolut keine Gefahr dar", sagt der 49-jährige Kundenberater bei einer grossen Versicherung in Zürich.
Nach der Diagnose der Ärzte musste Baudois damals damit rechnen, nur noch wenige Monate zu leben. Dank einer Studie mit neuen Medikamenten konnte er wieder zurück ins Leben und den Arbeitsalltag finden.

Während früher der Befund HIV-positiv meist das Ende der Arbeitskarriere bedeutete, ist es heute für viele Betroffene möglich, voll in einem Job engagiert zu sein. Daher ist bei der Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz in den letzten Jahren die Anzahl Anfragen betreffend Erwerbstätigkeit stark gestiegen.

Mobbing durch Arbeitskollegen und Vorgesetzte ist ein häufiger Grund für eine Meldung. Erwähnung der Krankheit im Arbeitszeugnis, Kündigung, Information der Belegschaft, "um Ansteckungen im Betrieb zu vermeiden" sind weitere Beispiele von Diskriminierungen.

"Oft kann es aus Gründen von Unwissenheit oder Vorurteilen dazu kommen, dass solche Menschen eine Kündigung erhalten, wenn bekannt wird, dass sie HIV-positiv sind. Oder dass sie von Kollegen oder Vorgesetzten gemobbt werden", sagt Bettina Maeschli, Leiterin Kommunikation bei der Aids-Hilfe Schweiz.


 

Fast wegrationalisiert

Ähnliches erlebte auch Michel Baudois. "Die Diskriminierungen kamen nicht vom Unternehmen", stellt er klar. "Es war eher das Unwissen einzelner Abteilungsleiter. Die waren auch etwas hilflos in ihrer Reaktion."
Während einer grossen Umstrukturierung sei man plötzlich der Meinung gewesen, "dass ich da am falschen Platz wäre, obwohl ich nach der Umstrukturierung dieselbe Arbeit weitergeführt hätte". Er habe daraufhin eine sofortige Aussprache verlangt, "von Angesicht zu Angesicht. Ich wollte hören, was sie zu sagen hätten. Das Gespräch hat dann nicht stattgefunden, wurde abgesagt. Und die für mich geplante Massnahme wurde fallengelassen".


 

In der Probezeit entlassen

Oft können sich Angestellte aber nicht so gut wehren, etwa weil sie sich noch in der Probezeit befinden. So ist es zwei Bekannten von Baudois ergangen, die nach Bekanntwerden der Gesundheits-Abklärungen durch die Pensionskassen von ihren neuen Arbeitgebern in der Probezeit entlassen wurden – "mit fadenscheinigen Begründungen".

Bettina Maeschli weiss von einem weiteren Beispiel aus den Diskriminierungsmeldungen der Aids-Hilfe: "Ein Mann hatte ein 100-Prozent-Pensum absolviert, wurde aber nur 50 Prozent bezahlt mit der Begründung, er sei HIV-positiv und könne deshalb nicht die volle Leistung bringen. Was ganz klar ein Fall von Ausnützung ist."

Baudois vergleicht das Leben eines HIV-Positiven mit jenem eines Diabetikers, der einfach täglich sein Insulin nehmen muss. "Ich arbeite voll. Im Vergleich zu anderen Mitarbeitenden kann ich sagen, dass ich weniger Krankheitsabsenzen habe."

"70 Prozent dieser Menschen arbeiten. Der Grossteil geht jeden Tag zur Arbeit", sagt auch Maeschli. Die 84 Fälle von Diskriminierung, welche die Aids-Hilfe für die letzten 12 Monate ausweise, seien lediglich "die Spitze des Eisbergs": In der Rechtsberatung habe man "täglich Fälle von HIV-positiven Menschen, die uns anrufen und von Problemen am Arbeitsplatz erzählen".


 

Kein Antidiskriminierungs-Gesetz

Ein Problem ortet die Aids-Hilfe in der Tatsache, dass die Schweiz zwar seit 2004 ein Behindertengleichstellungs-Gesetz habe, dieses aber nur für Bundesstellen gelte. Die Schweiz schneide daher im internationalen Vergleich schlecht ab. "Es gibt kein Antidiskriminierungs-Gesetz in der Schweiz", sagt Maeschli.

Das führe dazu, dass die Beweislast heute immer noch beim Arbeitnehmenden liege, dieser also nachweisen müsse, dass er diskriminiert worden sei. Daher setzt sich die Aids-Hilfe zusammen mit anderen Organisationen für ein solches Gesetz ein. "Wir versuchen, auf parlamentarischer Ebene Einfluss zu nehmen", so Maeschli.


 

Fehlender Versicherungsschutz

Ein weiteres Problem: Versicherungen bieten HIV-Positiven keine Taggeldversicherung (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) an. Hat ein Betrieb keine Kollektiv-Versicherung, sind diese Menschen im Krankheitsfall nicht ausreichend versichert. Von Berufs wegen Verständnis dafür hat Versicherungsexperte Baudois: "Der Grundsatz der Versicherung ist, dass bestehende Leiden nicht versichert werden können."

Aber: "Was ich an der Branche kritisiere, ist, dass die heutigen medizinischen Erfolge zu wenig beachtet werden." Sein Ratschlag: Beim Jobwechsel die Krankentaggeldversicherung des letzten Arbeitgebers im Einzeltarif weiterführen. "Es ist zwar viel teurer, aber man muss keine neuen Gesundheitsfragen beantworten."


 

Arbeitsplatz-Reglement

Um Unwissenheit und Vorurteilen in Unternehmen entgegenzuwirken, empfiehlt die Aids-Hilfe ein Arbeitsplatz-Reglement betreffend HIV. Mit verschiedenen grossen Firmen wie etwa Johnson & Johnson oder UBS konnte bereits ein solches Reglement ausgearbeitet werden.

"Damit wird gefördert, dass man einen offenen Umgang mit dem Thema hat, dass alle Mitarbeitenden dahingehend geschult werden, wie mit solchen heiklen Daten umzugehen ist", sagt Maeschli.
Die Angst vor HIV-positiven Mitarbeitern sei nämlich völlig unbegründet, meint Baudois. "Eigentlich müsste eher der HIV-Positive Angst haben: Ist jemand stark erkältet, ist die Ansteckungsgefahr für den unbehandelten HIV-Positiven grösser. Und dem kann man mit Aufklärung begegnen."


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