Neue Amnesty-Chefin will Schweizer mobilisieren

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Manon Schick: Aktivismus ist wichtig. Bild: amnesty.ch.
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Diie chinesische Aktivistin Mao Hengfeng ist einer der Menschen weltweit, um deren Schicksal sich AI kümmert. Bild: amnesty.ch

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Die Pressesprecherin von Amnesty International Schweiz übernimmt am Dienstag den Posten als Direktorin. Für sie ist Solidarität mit Menschenrechts-Bewegungen in aller Welt wichtig. Doch auch in der Schweiz ortet sie Probleme, besonders in der politischen Sprache.

 

Thomas Stephens, swissinfo.ch

28:02:2011

 

Die Menschenrechts-Organisation Amnesty International wird dieses Jahr 50 Jahre alt. Am 20. Mai werden die Menschen in der ganzen Schweiz eingeladen, als Teil der Feiern einen "Toast auf die Freiheit" zu trinken.
 
Damit soll an ein Erlebnis gedacht werden, das den britischen Anwalt Peter Benenson 1961 dazu inspirierte, die Organisation für Menschenrechte zu gründen.


 

swissinfo.ch: Sie werden ab dem 1. März Direktorin von Amnesty International Schweiz. Was wird sich ändern?

Manon Schick: Ich glaube nicht, dass sich innerhalb AI Schweiz viel ändern wird. Ich bin bereits jetzt Direktionsmitglied und will nicht alles verändern, wenn ich die Direktion übernehme.
 
Natürlich unterscheide ich mich sehr von meinem Vorgänger Daniel Bolomey, einem Mann von fast 60 Jahren: Ich bin eine junge Frau, also habe ich eine etwas andere Vision für Amnesty.
 
Während vielen Jahren war ich Volontärin, daher will ich die Menschen mobilisieren – und nicht nur Amnesty-Mitglieder – und ihnen erklären, wie wichtig es ist, sich für Menschenrechte einzusetzen.


 

swissinfo.ch: Wie wollen Sie die Leute mobilisieren?

M.S.: Das ist ziemlich schwierig in einer Zeit, in der die Menschenrechte nicht sehr viel gelten. Wir haben seit zehn Jahren den Krieg gegen den Terror und damit eine grosse Gegenbewegung, was die Menschenrechte betrifft. So wurde beispielsweise die Konvention gegen Folter durch die USA praktisch zur Makulatur gemacht.
 
Es ist daher keine einfache Aufgabe, das ist mir bewusst. Doch ich glaube, es ist wichtig, den Menschen in der Schweiz zu zeigen, dass wenn wir eine Demonstration zum Beispiel gegen Libyen organisieren – auch wenn wir das Gefühl haben, es bringe nichts –, dies in Libyen sehr erfreut zur Kenntnis genommen wird und den Menschen dort zeigt, dass es weltweit Solidarität mit ihrer Freiheitsbewegung gibt.
 
Wir müssen die Möglichkeiten wie freie Meinungsäusserung usw., die wir in der Schweiz kennen, für jene Menschen nutzen, die diese nicht zur Verfügung haben.


 

swissinfo.ch: Die Schweizer Regierung porträtiert die Schweiz gerne als Bastion der Menschenrechte. Wie stark interessieren sich Schweizerinnen und Schweizer für das Thema?

M.S.: Ich denke, sie sind sehr interessiert. In der Schweiz gibt es eine grosse Unterstützung für Amnesty International – wie auch für andere Menschenrechts-Organisationen.
 
Wir haben in der Schweiz über 45'000 Mitglieder und über 100'000 Spenderinnen und Spender. Der Prozentsatz der Unterstützung ist sehr hoch im Vergleich mit anderen Ländern wie etwa Frankreich oder Deutschland, die bei einer sehr viel grösseren Bevölkerung ungefähr gleich viele Spender haben.
 
Ich denke, das zeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer interessiert sind, die Menschenrechte zu verteidigen, auch wenn ihnen die Zeit fehlt, auf die Strasse zu gehen oder Briefe zu schreiben.


 

swissinfo.ch: Im Tätigkeitsbericht 2010 schreibt Amnesty, dass die politische Diskussion in der Schweiz zunehmend rassistisch und fremdenfeindlich sei. Was ist damit gemeint?

M.S.: Amnesty hat dies nicht allein beobachtet. In der politischen Debatte hört man immer öfter Sätze wie "Islamisierung der Schweiz" oder "Schweizer Werte in Gefahr". Das hörte man vorher nicht so häufig.
 
In den letzten Jahren wurde es schlimmer, weil die Parteien versuchen, mit ausländerfeindlichen Gefühlen auf Stimmenfang in der Bevölkerung zu gehen. Man könnte das Gefühl haben, es gebe ein grosses Problem zwischen den Muslimen und anderen Religionen in der Schweiz, doch dem ist nicht so.
 
Die politischen Parteien tragen hier eine grosse Verantwortung, und sie sollten nicht einfach ein Spiel spielen, das gefährlich ist für die Harmonie zwischen Schweizern und Ausländern oder zwischen Religionen in der Schweiz.


 

swissinfo.ch: Ist die politische Sprache das grösste Menschenrechts-Problem in der Schweiz?

M.S.: Es ist eines der grössten. Das andere ist ein Problem, das wir seit etwa 30 Jahren haben: Die Migration. Die Situation hat sich zusehends verschlechtert. In den letzten 30 Jahren wurde das Asylrecht fast bei jeder Änderung zunehmend verschärft.
 
Die Situation für Migrantinnen und Migranten in der Schweiz ist heute sehr schwierig – einige Asylsuchende haben kein Recht auf einen fairen Prozess und rechtliche Unterstützung, und wenn ihr Antrag abgelehnt wird, haben sie kein Recht auf ein würdiges Leben: Familien können gezwungen werden, mit 10 Franken pro Tag zu überleben – auch wenn sie keine Papiere haben, um zurück in ihr Land zu gehen. Das ist für ein Land wie die Schweiz inakzeptabel.


 

swissinfo.ch: Immer, wenn Amnesty etwas an der Schweiz kritisiert, hagelt es Leserbriefe, die erklärten, AI verteidige Ausländer, die Schweizer Werte untergraben würden. Was ist Ihre Antwort?

M.S.: Es ist immer einfach, China, Libyen oder Tunesien zu kritisieren, weil alle wissen, dass die Situation in diesen Ländern sehr schlecht ist. Doch niemand will hören, dass es sogar in der Schweiz einige Probleme gibt.
 
Ich sage immer: Die Schweiz ist ein Land, in dem es sich gut leben lässt und das fast alle Menschenrechte respektiert, doch das ist nicht genug – wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen der Art und Weise, mit der die Schweiz die Wichtigkeit der Menschenrechte im Ausland betont und jener, wie die Schweiz diese im Inland handhabt, beispielsweise mit verletzlichen Gruppen wie Migrantinnen und Migranten.
 
Es geht auch um die Glaubwürdigkeit. Wir können nicht immer die USA für ihr Vorgehen in Afghanistan oder Guantanamo kritisieren und daneben die kleineren Probleme in der Schweiz ignorieren. Wir müssen allen Ländern auf der Welt kritisch auf die Finger schauen.


(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)


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