Geschlechter- und Kantonsgerangel um Bundesratssitze

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Pascal Sciarini, Leiter der Fakultät für politische Wissenschaften an der Uni Genf. (DR)
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Der Weg zum Frauenstimmrecht war lang und steinig.

Sozialdemokratische Anwärterinnen auf die Nachfolge von Leuenberger sind Hildegard Fässler (NR, SG), Jacqueline Fehr (NR, ZH), Simonetta Sommargua (SR, BE) und Eva Herzog (BS).

Zur Nachfolge von Merz in der Freisinnig-demokratischen Partei gemeldet haben sich Ignazio Cassis (TI), Peter Malama (BS), Ruedi Noser /ZH), Johann Schneider-Ammann (BE) und Karin Keller-Suter (SG).

Die Grünen möchten dem Freisinn gerne diesen Sitz wegschnappen. Zur Verfügung gestellt haben sich die NR Marlies Bänziger (ZH), Geri Müller (AG) und Brigit Wyss (SO).

In der Schweizerischen Volkspartei SVP soll es 5 Kandidierende geben. Zur Zeit ist aber nur die Kandidatur von Jean-François Rime (FR) öffentlich bekannt.

Für die beiden freiwerdenden Sitze in der Regierung gibt es mindestens 13 Anwärter und Anwärterinnen, vielleicht sogar 17. Das mediale Interesse gilt den Selektionskriterien Geschlecht und Herkunftskanton. Sehr erstaunt darob ist Politologe Pascal Sciarini.

 

Sonia Fenazzi

31:08:2010

 

Die Vorphase der Bundesratswahlen ist in den beiden Parteien, deren Regierungsmitglieder zurücktraten, abgeschlossen. Beim Freisinn (FDP) zählt man fünf Kandidierende, eine Frau und vier Männer, welche die Nachfolge von Hans-Rudolf Merz antreten möchten. Bei den Sozialdemokraten (SP) sind es 4 Frauen, die Moritz Leuenbergers Position gerne einnähmen.

Aber auch andere politische Parteien haben ihre Ambitionen auf (weitere) Sitze in der Regierung angmeldet.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) beansprucht für sich einen zweiten Regierungssitz, möglichst auf Kosten der SP. Sie spricht schon von "fünf kompetenten Leuten" aus ihren Reihen, ohne jedoch Namen zu nennen.

Nur der Freiburger Jean-François Rime hat öffentlich sein Interesse bekannt gemacht. Der frankophone Rime spricht auch perfekt deutsch.

Doch das allein dürfte nicht genügen für einen Sitz, der laut Tradition einem Deutsch- oder Italienischsprachigen zusteht. Umso mehr, als Letztere seit 1999 nicht mehr in der Regierung vertreten sind und den Freisinnigen Nationalrat Ignazio Cassis kandidieren lassen.

Auch die Grünen beanspruchen für sich das Recht auf einen Sitz in der Exekutive, nämlich jenen von Bundesrat Merz. Drei Grüne, zwei Frauen und ein Mann, haben sich zur Verfügung gestellt.


 

Generalprobe für 2011

"Die SVP und die Grünen können nicht wirklich hoffen, die parteienmässige Verteilung der gegenwärtigen Regierung zu ändern", sagt Pascal Sciarini von der Uni Genf. "Doch sie legen die Basis und markieren Präsenz für die kommenden Parlamentswahlen im Herbst 2011.

Denn in einem Jahr sei es "möglich, dass die Karten neu gemischt werden." Der Leiter der Fakultät für politische Wissenschaften in Genf schliesst zwar einen Überraschungscoup nicht aus, interpretiert die drei Kandidaturen der Grünen aber eher "als symbolische Geste".

Er ist jedoch überzeugt, dass alle sozialdemokratischen und freisinnigen Bewerber die Wahl wirklich anstreben. "Wahrscheinlich haben nicht alle dasselbe Gewicht und die dieselbe Erfolgs-Chance." Aber eine gewisse Chance hätten sie alle, denn es komme auf derart viele Faktoren an.

 

 

"Die Konkordanz ist tot"

Die Zeit, als gewisse Prinzipien bei der Auswahl des Bundesrats unantastbar waren, ist definitiv vorbei. "Die Konkordanz ist tot, es gibt nur noch eine vage Arithmetik rund um sie herum," sagt Sciarini. Denn es bestünden zu viele Divergenzen, besonders zwischen Sozialdemokraten und der SVP, um eine Regierung zu haben, die auf einer gemeinsamen Basis bauen könnte.

In diesem Umfeld, das durch Polarisierung und Antagonismen gezeichnet sei, bedeute jedes neue Regierungsmitglied grosse Instabilität und Unsicherheit. "Umso mehr, als dieses Mal sogar zwei Sitze vakant sind."

Deshalb werden die Taktiken verfeinert und Allianzen gewoben, was zu einer spezifischen Dynamik führe: "Die Wahl des zweiten Kandidaten könnte vom Resultat der ersten Wahlen beeinflusst werden. Oder umgekehrt könnte das Parlament bei der ersten Wahl einen sozialdemokratischen Kandidierenden mit einem Bezug zum Bürgerlichen, den man als Zweiten ebenfalls haben möchte, bevorzugen."


 

Kantonale Spielfiguren auf dem Schachbrett

Zwar liessen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Spekulationen machen, doch sei die Vorphase der Ersatzwahlen für Leuenberger und Merz diesmal durch ein neues kantonales Gegenüberstellungs-Schema zwischen SP und Freisinn geprägt gewesen.

Die vier freisinnigen Bewerber stammen aus denselben Kantonen wie jene der sozialdemokratischen Kandidierenden: Bern, Zürich, St. Gallen und Baselstadt. Ausserhalb dieses Rahmens ist nur der Freisinnige Tessiner Ignazio Cassis im Rennen.

Die Frage, ob zwei Bundesräte aus demselben Kanton kommen könnten, machte die Runde. Eine Diskussion, die Sciarini als absurd bezeichnet. "Denn das Wesentliche wären Personen mit Komptenz und Kollegialität, die für das ganze Land gut regieren können."

Sciarini zeigt sich überrrascht, dass das Kriterium des Kandidaten-Kantons derart gewichtet wird, nachdem 1999 die Klausel gefallen war, wonach nicht zwei Regierungsmitglieder aus demselben Kanton stammen dürfen.

Dieser Schritt sei gemacht worden, um den Manövrier-Spielraum bei der Wahl neuer Bundesräte zu verbreitern. Jetzt werde versucht, dies wieder rückgängig zu machen, so Sciarini.

Dies lasse ihn perplex, denn schon ab Januar 2009 stammten zwei Bundesräte aus demselben Kanton: Sowohl Moritz Leuenberger als auch Ueli Maurer sind Zürcher. Und auch das ist nicht neu: Von 2004 bis 2007 war Leuenberger zusammen mit dem Zürcher Christoph Blocher in der Regierung.


 

Konfusion zwischen Kanton und Region

Die als Favoriten gehandelten Simonetta Sommaruga (SP) und Johann Schneider-Ammann (FDP) haben ihren Wohnsitz beide im Kanton Bern. Die deshalb gemachten Vorbehalte, so schätzt Sciarini, seien ein Vorwand, der andere Gründe verberge, gewisse Kandidaturen abzuhalten.

Der Politologe bemerkt ausserdem "eine gewisse Konfusion zwischen Kanton und Region". Zwei Regierungsmitglieder aus demselben Kanton stehen dem regionalen Gleichgewicht, wie es die Verfassung verlange, nicht entgegen.

Sciarini ist auch erstaunt darüber, dass Bundesrätin Micheline Calmy-Rey der SonntagsZeitung gegenüber gesagt habe, dass "es nicht einfach werde, wenn zwei Berner gewählt würden".

Dem hatte sie beigefügt, dass alle grossen Regionen des Landes im Bundesrat vertreten sein müssten.


 

Das Jahr der Frau?

Das Calmy-Rey-Interview hat aber auch aus einem anderen Grund für Aufregung gesorgt. So titelte die SonntagsZeitung, dass fünf Frauen im Bundesrat problematisch wären. Und schrieb diese Aussage der Aussenministerin zu.

Calmy-Rey verneinte nachher, so eine Aussage je gemacht zu haben - im Interviewtext selber kam sie auch nicht vor. Die Aussenministerin sprach auch von falscher Interpretation ihrer Aussagen.

Die Möglichkeit, dass die beiden abtretenden Bundesräte durch Bundesrätinnen ersetzt würden, ist jedenfalls gegeben und sorgt für Reaktionen. Auch diese Kontroverse ist für Sciarini unverständlich.

Seiner Ansicht nach gehört das Geschlecht nicht zu den Kriterien für die Auswahl von Regierungsmitgliedern. Er unterstreicht die Notwendigkeit einer Selektion, die sich auf Kompetenzen abstützt. "Falls sich herausstellen sollte, dass Frauen kompetenter sind - umso besser: Eine Landes-Regierung mit einer Frauen-Mehrheit wäre ja ausgezeichnet für das Image der Schweiz im internationalen Bereich."

Doch zur Zeit wäre dies nur eine Annahme unter vielen. Die grossen Manöver setzen sich fort. Eine Voraussage von Sciarini für den 22. September? "Ausser einem Wahrsager sehe ich niemanden, der dies voraussagen könnte!"


Quelle: Radio SRI/ swissinfo.ch
Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle.


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