"Man blickte dem Tod gewissermassen ins Gesicht"

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LOVE LIFE STOP AIDS-Kampagne des Bundesamts für Gesundheit und der Aids-Hilfe Schweiz. Bild: BAG
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Poster des Vereins "Kampf gegen Aids" in Marokko. (aidsfocus.ch).

" Es war ein absoluter Schock, ich befand mich in einem traumatischen Zustand. Man weiss gar nicht mehr, was man macht, weil der Verstand das nicht verarbeiten kann. "
Françoise Dupont

Seit 1986 ist Françoise Dupont HIV-positiv. "Aids war damals eine neue Krankheit. Man wusste, die meisten Aids-Kranken sterben innerhalb von zwei, drei Jahren." Ein swissinfo-Porträt zum jährlichen Welt-Aids-Tag vom Dienstag.

 

Jean-Michel Berthoud

04:12:2009

 

Die Zahl der Aids-Infektionen ist in den vergangenen acht Jahren um 17% zurückgegangen. Dies meldet der UNO-Welt-Aids-Bericht zum Welt-Aids-Tag vom Dienstag. Entwarnung wäre aber fehl am Platz, warnen Experten.

Auch Françoise Dupont (Name von der Red. geändert) ist dieser Ansicht. Die 49-jährige, im Kanton Zürich wohnhafte Frau arbeitet drei Tage in der Woche in einer Krippe mit Kindern verschiedener Altersstufen. "Mehr kann ich nicht arbeiten. Ich finde es aber toll, dass das noch möglich ist", sagt sie.

 

"Ein absoluter Schock"

Mit HIV infiziert habe sie sich wahrscheinlich in den 80er-Jahren im AJZ Zürich (Autonomes Jugendzentrum). Das seien ziemlich wilde Jahre gewesen, geprägt von der Jugendbewegung in der Stadt Zürich, wo sie aufgewachsen ist.

"Nachdem ich schon verschiedene Symptome gehabt hatte, machte ich 1986, 26-jährig, den HIV-Antikörper-Test. Das Resultat war klar: HIV-positiv. Es war ein absoluter Schock, ich befand mich in einem traumatischen Zustand. Man weiss gar nicht mehr, was man macht, weil der Verstand das nicht verarbeiten kann."

"Aids war damals eine neue Krankheit, sie galt als die Krankheit der Schwulen", erinnert sich Françoise Dupont. "Man wusste, die meisten Aids-Erkrankten sterben innerhalb von zwei, drei Jahren. Mehr Informationen gab es damals eigentlich gar nicht. Man blickte dem Tod gewissermassen ins Gesicht. Das Wissen über Aids war 1986 auf einem ganz anderen Stand als heute."

 

Wie weiterleben?

Das war jetzt die Frage, mit der sich Françoise Dupont auseinandersetzen musste. "Der kämpferische Kern in mir liess mich sagen: Ich sterbe nicht an Aids, ich will leben, weiterleben."

Das müsse man sich immer wieder sagen, gerade dann, wenn man sich schwach fühle. "Sehr oft erwachte ich nachts, total in Schweiss gebadet, nass. Die Müdigkeit nahm zu, ich hatte kaum mehr Energie, ich fing an, mich selbst zu bemuttern. Andererseits hatte ich den Wunsch, aus diesem Bemuttern auszubrechen und Grenzen zu spüren."

Sie habe dann während vielen Jahren verschiedene Therapien ausprobiert, vor allem mit Komplementärmedizin, um das Immunsystem zu unterstützen. Gleichzeitig habe sie nie aufgehört zu arbeiten.

 

Das Problem des sozialen Umfelds

"Damals, 1986, war die erste Frage: Wem erzähle ich, dass ich Aids habe? Mein damaliger Partner, ein Arzt, hat mich einfach verlassen, weil er Angst hatte. So reagierte jener Mensch, der mir am nächsten stand!"

Damit wurde Françoise Dupont klar, wie heikel es ist, sich zu outen, "weil die Leute einfach Angst vor Aids hatten". Deshalb suchte sich die junge Frau ihren Freundeskreis sehr genau aus. "Für mich war klar: Ich brauche um mich herum Menschen, die wissen, dass ich HIV-positiv bin. Ein Netz, das es weiss und tragen kann, damit ich mit meinem Problem nicht isoliert bin."

Françoise Dupont suchte Gleichgesinnte. Sie wandte sich an die damals noch nicht so lange bestehende Aids-Hilfe Schweiz. Diese gab ihr Kontaktadressen. Daraus entstand die erste Aids-Selbsthilfegruppe in der Deutschschweiz. "Es gab uns aber nur etwa zwei Jahre, weil die Leute dieser Gruppe nach und nach gestorben sind."

 

Angst und Zynismus

Als die erste Person in der Gruppe sehr krank geworden sei, hätten sie alle panische Angst gehabt und gedacht: "Wenn du stirbst, könnte ich auch sterben."
Es sei eine verrückte Zeit gewesen, sagt Françoise Dupont. "Ich hatte Angst. In den Medien wurde damals noch diskutiert, ob man alle Aids-Kranken auf eine Insel verfrachten sollte. Wir haben uns regelmässig betrunken an unseren Treffen und uns die schlimmsten Aids-Witze erzählt - mit Zynismus die Angst verdrängt."

 

Ein Leben mit Medikamenten

In den 90er-Jahren habe es ausser AZT, ein Medikament, das man von der Krebs-Therapie her kannte, nichts an Aids-Therapie gegeben. "Leute wurden mit AZT vergiftet, wie man später offiziell zugab. Man behandelte während einigen Jahren die HIV-Positiven mit einer viel zu grossen AZT-Dosierung. Die Behandelten sahen alle so aus, als ob sie aus einem Konzentrationslager kämen. Das war eine schlimme Zeit."

Heute seien die Medikamente viel besser, dank ihnen würden die Leute jetzt viel weniger sterben, "und wir gingen eine Zeit lang oft an Beerdigungen". Sie sei zwar immer kritisch gegenüber Schulmedizin und Medikamenten gewesen, "aber wenn es mir während drei, vier Wochen wieder so schlecht ging, habe ich sie natürlich eingenommen", sagt sie.

Ein Leben mit Medikamenten sei aber nicht lustig. Man lerne zwar, mit den Nebenwirkungen zu leben. Man spreche aber zu wenig darüber, was das heisse: "Ein ganzes Spektrum von Angstzuständen." Und dann das ewige Versteckspiel: "Im Ausgang immer ein kleines Döschen dabei, auf dem WC schnell und heimlich die Medis einnehmen."

 

Lebenswertes Leben

Die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen ist auch heute noch ein Thema. Viele Betroffene führten deshalb ein Doppelleben, sagt Françoise Dupont. "An Aids-Kongressen wird darüber diskutiert, warum wir uns nicht outen, warum es fast keine Leute gibt, die sich zeigen und sagen, das ist mein Name, das ist mein Gesicht, und ich bin HIV-positiv."

Das habe auch etwas mit den Medikamenten zu tun. "Die haben uns befähigt, wieder 'normal' zu sein. Aber die Frage bleibt: Was ist der Preis dafür?"

Trotz allem sagt die 49-jährige HIV-positive Frau: "Mein Leben ist absolut lebenswert. Auch wenn nicht mehr klar ist, ob ich 50, 60 oder 70 werden kann. Ich lebe intensiver, weil das Leben nicht einfach garantiert ist."


Quelle: Radio SRI/ swissinfo.ch


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