Buben - das benachteiligte Geschlecht?

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Blicken die Kleinen einem "war for talents" entgegen?
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Silvia Hofmann

Die Autorin des Beitrages, Silvia Hofmann, lic.phil.MA, ist Leiterin der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann Kanton Graubünden.

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In der Schule werden heute die Mädchen bevorzugt, und die Buben sind zunehmend benachteiligt - diese Behauptung macht landauf, landab auf TV-Kanälen und in Zeitungsspalten die Runde. Als "Beweise" werden angeführt: die Maturitätsquoten (57 Prozent der MaturandInnen sind Frauen). Die so genannte Feminisierung der Primarschule (78.8 Prozent der Primarlehrpersonen sind Frauen). Der hohe Bubenanteil in Sonderklassen. Die Bevorzugung sprachlicher Kompetenzen und die Benachteiligung mathematisch-naturwissenschaftlicher Kenntnisse.

 

Silvia Hofmann, lic.phil.MA

08:04:2008

 

Der kleine Unterschied zwischen Buben und Mädchen ist mit einem Mal ganz gross geworden. Und er ist nicht einfach ein Thema, sondern ein Problem. Erstaunlich. Endlich haben wir es geschafft, die Bildungschancen auch für Mädchen zu verbessern. Das ist ein Erfolg. Doch wird die Freude daran überschattet von einer Diskussion, die pädagogische und andere Fachleute in Erstaunen versetzt. Wie würde das Thema denn behandelt, wenn wir zum Beispiel über 90 Prozent Primarlehrerinnen hätten, wie das beim PISA-Sieger Finnland und in Italien der Fall ist? Oder wenn wir plötzlich über 60 Prozent Sekundar- und Gymnasiallehrerinnen hätten wie in England und Portugal?

Seit Jahrzehnten weisen Gleichstellungsfachleute auf die gesellschaftlich und erzieherisch bedingten Unterschiede zwischen Buben und Mädchen hin. Schon im Kindergarten werden die uneinheitlichen sozialen und intellektuellen Voraussetzungen, Entwicklungsprozesse und Verhaltensweisen beobachtet. Schulerfolg hängt u.a. davon ab, dass Mädchen und Buben dort abgeholt werden, wo sie sind. Und sie stehen offensichtlich nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Höchste Zeit, dass das von Gleichstellungsfachleuten erarbeitete Wissen ernst genommen wird. Und Eingang in die Ausbildung von Lehrpersonen findet.

Es sind ja noch nicht einmal zwanzig Jahre her, dass die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium auch in Graubünden für Mädchen schwieriger waren als für Buben. Jetzt sind die Bedingungen gleich, und die Buben haben Konkurrenz erhalten. Auch sie müssen sich anstrengen. Arbeitsdisziplin und Konzentrationsfähigkeit sind die Qualitäten, die zum Schulerfolg führen - bei Mädchen und bei Buben. Es ist nicht einzusehen, weshalb solche Qualitäten nicht von beiden Geschlechtern verlangt werden dürfen. Es mag ja sein, dass Mädchen durchschnittlich häufiger darüber verfügen als Buben. Und Eltern und Lehrpersonen täten gut daran, den Buben die Vorteile davon vor Augen zu führen. Allein zum männlichen Geschlecht zu gehören, qualifiziert nicht automatisch für höhere Weihen.
Oder etwa doch? Auf die Karrierechancen von jungen Männern scheinen die schulischen Defizite keinen Einfluss zu haben. Denn nach wie vor ist es so, dass junge Männer leichter eine Lehrstelle finden als junge Frauen. Dass junge Männer in weit grösserem Ausmass weiterführende Ausbildungen absolvieren als junge Frauen. Dass die Fachhochschulen nach wie vor Männer-Hochburgen sind. Dass die wichtigste Wirtschaftshochschule und Kaderschmiede der Schweiz, die HSG St. Gallen, einen Frauenanteil von unter 30 Prozent hat. Einen "Doktor" machen an unseren Universitäten immer noch über 60 Prozent der Männer. Und ausgerechnet bei den höchst anspruchsvollen Positionen sind die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern am grössten. Daran hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert.


Wenn die Geschlechterdifferenzen weiterhin hartnäckig ignoriert werden, "droht" tatsächlich weiterer Bildungserfolg bei den Mädchen und Frauen. Vielleicht sind wir in wenigen Jahren sehr froh darum: Die Ökonomie prophezeit uns einen riesigen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Ein "war for talents" wird vorausgesagt. Dann wird man sich um die gut ausgebildeten Frauen reissen.


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