Polanski

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Julia Onken - Autorin, Psychologin und Schriftstellerin.
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Die Schweiz ist ein Rechtsstaat.

"Und so muss sich wohl Polanski in seiner Zelle fühlen - oder wo auch immer er sich aufhält, dass die Strafe, die wie ein Damoklesschwert seit drei Jahrzehnten über ihm hängt und ihm nun der Prozess droht - 25 Jahre Haft ist kein Pappenstiel - , seinem zweifellos schweren Vergehen in keiner Weise gerecht wird und in keinem Verhältnis steht."

Julia Onken 

Da ich mich grundsätzlich für die Rechte der Frau einsetze, müsste ich mich darüber freuen, dass Männer für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Ich müsste mit einer gewissen Genugtuung die Inhaftierung Polanskis zur Kenntnis nehmen und mir sagen: Also doch.

 

Julia Onken

10:10:2009

 

Die Schweiz ist ein Rechtsstaat. Alle Menschen - auch Männer! - sind vor dem Gesetz gleich. Wer sich an weiblichen Menschen vergeht, muss bestraft werden. Und zwar hart. Auch wenn die Tat vor 32 Jahren geschehen ist. Und ich könnte mich wieder gelassen meinem Tagesgeschäft zuwenden.

Doch es will mir irgendwie nicht recht gelingen. Vor allem nachts, zwischen zwei und drei Uhr, in einem Zeitraum also, wo der selbstgerechte Verstand noch nicht so richtig mittun will, etwas benommen vor sich hindümpelt und die Gedanken planlos herumstreunen.

Da entzieht sich die innere Bilderwelt der Tageskontrolle und plötzlich hängt das eine oder andere Bild schief oder fällt gar aus dem Rahmen heraus. Das Bild des schrecklichen Ungeheuers, des Gewalttäters Polanski, der sich über ein wehrloses Kind hermacht und brutal vergewaltigt, zeigt Risse und zerbröselt.

Der Versuch, das gefällte Werteurteil bildhaft zu konstruieren, scheitert kläglich. Die Szene will nicht, entzieht sich meiner Vorstellung. Anstelle des schwarz-weiss Bildes zeichnen sich differenzierte, verästelte Konturen auf, die in das Labyrinth eines Beziehungsgeflechtes hinein führen und die keine Beurteilung erlauben. Die Angelegenheit scheint sehr viel komplexer, differenzierter, komplizierter zu sein und vor allem aber, schwer zu verstehen.

 

Aber wer kann denn schon die Worte von Natascha Kampusch verstehen, die mit 10 Jahren entführt wurde und über Jahre von ihrem Entführer gefangen gehalten wurde, wenn sie anlässlich seines Selbstmordes sagt: "Von meiner Sicht aus wäre sein Tod nicht nötig gewesen. In gewisser Weise trauere ich um ihn. Er war schliesslich Teil meines Lebens". Hier wird eine Türe aufgestossen, die den Blick in äusserst verschlungene und tief ins Seelische hinreichende zwischenmenschliche Verhältnisse freigibt. Und wer sich damit auseinander setzen will, muss entweder bereit sein, sich auf die unwegsamen Pfade menschlicher Gefühle, Schwächen und Unzulänglichkeiten einzulassen oder einfach den Mund halten. Die hilflose Haarspalterei juristischer Vertreter greift eh daneben und ist mit Goldschmieden zu vergleichen, die versuchen, mit einem Schraubenzieher Arbeiten an Schmuckgegenständen vorzunehmen.

 

Und so muss sich wohl Polanski in seiner Zelle fühlen - oder wo auch immer er sich aufhält, dass die Strafe, die wie ein Damoklesschwert seit drei Jahrzehnten über ihm hängt und ihm nun der Prozess droht - 25 Jahre Haft ist kein Pappenstiel - , seinem zweifellos schweren Vergehen in keiner Weise gerecht wird und in keinem Verhältnis steht.


Zudem sollte sich gar der eine oder andere Herr in seinem Handlungsarchiv umschauen und in verstaubten Akten die eigenen sexuellen Aktivitäten studieren. Und falls nicht ein pathologischer Gedächtnisverlust dazu geführt hat, dass alle Erinnerungen gelöscht sind, müssten sich nicht wenige Mannen zu einer Solidaritätsbekundung zusammen finden: Wir haben vergewaltigt - wir hatten Sex gegen den Willen der Frau - wir hatten Sex mit einer Minderjährigen.


Ich fordere weder Gnade noch Gerechtigkeit für Polanski, sondern einfach Verhältnismässigkeit. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.


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