Prof. Dr.jur Helen Keller
Geboren 1964.
Studium der Rechtswissenschaften an der Uni Zürich.
LL.M.-Studium am Collége d'Europe in Bruges, Belgien.
1995: Forschungsaufenthalt am European Law Research Center an der Harvard Law School, Cambridge.
Bis 2002 Oberassistentin an der Uni Zürich.
Seit 1996 Konsulentin einer Zürcher Anwaltskanzlei.
2002: Habilitation an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.
2002 bis 2004: Ordentliche Professorin für öffentliches Recht an der Uni Luzern. Dann Rückkehr nach Zürich, wo sie Öffentliches Recht sowie Europa- und Völkerrecht lehrt.
2008: Wahl in den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen.
2009: Aufenthalt am EGMR in Strassburg. Forschungsprojekt zu Gütlichen Einigungen vor dem Gerichtshof.
2010: Wahl für weitere vier Jahre in den UNO-Menschenrechtsausschuss.
2011: Wahl als Richterin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (Stellenantritt: Oktober).
Helen Keller ist verheiratet und hat zwei Söhne.
Sind Menschenrechte heute überhaupt wichtig? swissinfo.ch sprach darüber mit der Zürcher Völkerrechtsprofessorin Helen Keller, die als Richterin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gewählt wurde.
Etienne Strobel
17:04:2011
Helen Keller: Menschenrechte spielen in viele Lebensbereiche hinein. Denken Sie an Fukushima. Ein Atomkraftwerk hat zwar primär nichts mit Menschenrechten zu tun. Aber wenn die Behörden so lausig arbeiten, dass irgendwann das Recht auf Leben tangiert ist, dann ist das eine Frage der Menschenrechte.
Oder denken Sie an die Revolutionen in zahlreichen arabischen Ländern. Die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit ist heute unvorstellbar ohne die neuen Kommunikationsformen wie Facebook und Twitter.
Es ist gut, dass die Menschenrechte nicht in Stein gemeisselt sind. Sondern dass wir sie in der Rechtsprechung immer wieder den neuen Bedrohungssituationen anpassen können und müssen.
H. K.: Dass man in schwierigen Fällen neue Grundrechtsaspekte ausloten kann. Die vielen Routine-Menschenrechtsverletzungen, wie zu lange Verfahren, sind nicht das Spannendste. Aber auf 30, 40 normale Fälle haben wir vielleicht eine Trouvaille. Und dort reizt es mich, eine neue Rechtsprechung einleiten zu können.
Spannend bei reinen Aktenprozessen ist die Diskussion mit den Kollegen. Diesen Dialog schätze ich sehr. Denn viele Menschenrechtsfragen sind nicht auf den ersten Blick zu beantworten.
H. K.: Ich muss alles aufgeben, was meine Unabhängigkeit und meine zeitliche Verfügbarkeit beeinträchtigen würde. So darf ich nicht mehr gutachterlich tätig sein. Und mein Mandat als Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschusses würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Also muss ich auch das abgeben.
Weiter darf ich nur in einem sehr kleinen Umfang unterrichten, im Bereich der Menschenrechte, während der Gerichtsferien.
H. K.: Nein, es sind über 140'000 Beschwerden hängig, obwohl der Gerichtshof in den letzten zehn Jahren seine Effizienz enorm gesteigert hat. Das heisst, in absoluten Zahlen werden immer mehr Beschwerden pro Jahr erledigt. Aber es werden auch immer mehr Beschwerden eingereicht.
Die Situation ist dramatisch, und 2010 hat die Schweizer Präsidentschaft im Europarat sehr auf eine Änderung hingewirkt. Ein grosses Thema, das die Interlaken-Deklaration aufgenommen hat, ist die Subsidiarität.
H. K.: Der Gerichtshof und die Europäische Menschenrechtskonvention sollten nur das letzte Mittel sein, das ein Individuum, welches sich auf seine Menschenrechte beruft, anrufen sollte. Dem Staat sollte es möglich sein, diese allfällige/behauptete Menschenrechtsverletzung stets zuerst von den nationalen Gerichten abklären zu lassen.
Das bedingt natürlich, dass die nationalen Menschenrechtssysteme funktionieren. Das haben wir nicht überall. Vor allem nicht in den ehemaligen Ostblockstaaten. Und das führt dazu, dass viele Menschen in diesen Staaten zuerst an Strassburg denken, weil sie kein Vertrauen in die nationalen Gerichte haben.
H. K.: Wir haben in der letzten Revision eine höhere Hürde eingeführt. Sie gibt dem Gericht die Möglichkeit, auf Beschwerden, bei denen kein gravierender Mangel feststellbar ist und bei denen die nationalen Gerichte die Sache genau geprüft haben, nicht mehr einzutreten.
Die Schraube noch mehr anzuziehen ist nicht ganz unproblematisch, denn der Gerichtshof schaut sich nur 5 bis 10% der Fälle genauer an. Für die restlichen Anfragen ist man gut organisiert: 90 bis 95% der Fälle werden in der Kanzlei erledigt.
H. K.: Bleiben wir im eigenen Land. Der Gerichtshof hat sich verschiedentlich zu Menschenrechtsfragen in der Schweiz geäussert. Zum Beispiel zum Namensrecht der Frauen. Da ist die Schweiz zwei Mal verurteilt worden, weil die Schweizer Regelung den Frauen bei der Heirat nicht die gleichen Möglichkeiten gab wie den Männern. Das sind wichtige Urteile für die Gleichberechtigung der Frau.
Ein anderer Bereich ist die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Da hat der Gerichtshof bahnbrechende Urteile erlassen. Diese sind nicht für die Schweiz, sondern gesamteuropäisch von grosser Bedeutung.
Und das dritte Beispiel, das für die Schweiz sehr wichtig war und auch eine europaweite Ausstrahlung hat, sind die Haftbedingungen. Dürfen zum Beispiel Gefängnisinsassen ihre Religion ausüben? Dürfen sie Post erhalten, dürfen sie Zugang zu Medien haben? Da hat der Gerichtshof ganz wichtige Urteile erlassen und die Haftbedingungen verbessert.
H. K.: Aus der Sicht der Menschenrechte und auch aus der Sicht des schweizerischen Verfassungsrechts ist es ganz eindeutig so, dass das Volk nicht immer recht hat.
Alle staatlichen Organe, da zähle ich auch den Souverän, das Stimmvolk und die Kantone dazu, sind an die Grundrechte gebunden. Das steht so in der Verfassung. Es darf nicht sein, dass das Volk allein durch einen Mehrheitsentscheid grundlegende Menschenrechte verletzt.
In Strassburg werden wir uns mit diesen schwierigen Fragen auseinandersetzen müssen. So sind Fälle pendent, insbesondere zum Verbot der Minarette. Zwar bin ich noch nicht im Amt, aber die Chance, dass ich mich mit diesen Fällen beschäftigen muss, ist relativ gross. Zur Wahrung meiner Unabhängigkeit darf ich als gewählte Richterin nichts mehr zu diesen Fällen sagen.
Quelle: Radio SRI/ swissinfo