Sechzehn Gründe für ein NEIN zur Minarettverbots-Initiative am 29. November 2009

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Amira Hafner-Al Jabaji, muslimische Islamwissenschaftlerin und Publizistin, präsidiert den Interreligiösen Think-Tank.
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Doris Strahm, christliche Theologin und Publizistin, ist Vizepräsidentin des Zusammenschlusses für den interreligiösen Dialog.

Mehr zur Minarettverbots-Initiative beim Interreligiösen Think-Tank lesen Sie hier.

Der Interreligiöse Think-Tank ist ein institutionell unabhängiger Zusammenschluss von Exponentinnen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz, die gemeinsam ihre Dialogpraxis reflektieren, gesellschaftliche und religionspolitische Fragen diskutieren und ihre Erkenntnisse und ihr interreligiöses Know-how der Öffentlichkeit zugänglich machen.

 

Amira Hafner-Al Jabaji und Doris Strahm

24:11:2009

 

Wir sagen NEIN zur Anti-Minarett-Initiative, weil ...

. sie nicht nur auf ein Bauwerk, sondern auf den Islam als Ganzes zielt und diesen diffamiert. Der Islam wird als rückständige, gewalttätige und frauenfeindliche Religion karikiert, und alle MuslimInnen in der Schweiz werden unter den Generalverdacht einer "schleichenden Islamisierung" unserer säkularen und demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung gestellt, der mit dem Verbot von Minaretten ein Riegel geschoben werden soll.

. ein Minarett-Verbot Missstände wie z.B. Zwangsheiraten, Zwangsverschleierung, mangelnder Integrationswille weder eliminiert noch verhindert. Diese Themen miteinander zu verknüpfen, ist eine bewusste Irreführung des Schweizer Stimmvolks.

. sie die Frauenfrage für politische Zwecke instrumentalisiert. Es ist völlig unglaubwürdig, wenn ausgerechnet jene Kreise, die seit Jahren jedes gleich- stellungspolitische Postulat bei uns bekämpfen, sich plötzlich für die Rechte und Befreiung der angeblich unterdrückten muslimischen Frauen einsetzen wollen.

. sie die konservativen Kräfte innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und damit auch traditionelle Frauenbilder und Geschlechterverhältnisse stärkt. Reform- und Integrationsbestrebungen in den muslimischen Gemeinschaften werden durch die Anfeindungen des Islam von aussen unterlaufen. Die dadurch provozierte Verteidigungshaltung führt zu Rückzug aus der Gesellschaft und zu einer verstärkten Rückbesinnung auf konservative Positionen. Das wirkt sich besonders nachteilig für Frauen aus.

. es zum Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit gehört, den Glauben zu praktizieren und ihn auch öffentlich sichtbar zu bekunden. So wie ChristInnen ihre Religion mit Kirchtürmen öffentlich sichtbar machen, haben auch MuslimInnen das Recht, ihre Religion mit dem Bau von Minaretten öffentlich sichtbar zu bekunden.

. sie die Sichtbarkeit und Integration des Islam bekämpft.Integriert ist nur, was auch seine Akzeptanz im öffentlichen Raum findet. Die Abdrängung in Hinterhöfe und Kellerräume (Untergrund) erhöht die Gefahr von Ghettobildung, In transparenz und Parallelgesellschaft. Öffentliche Präsenz dagegen bedeutet zugleich, einer gewissen sozialen Kontrolle ausgesetzt zu sein, was vertrauensbildend wirkt.

. sie eine konstruktive und faire gesellschaftliche Auseinandersetzung über Fragen rund um das Zusammenleben von verschiedenen Religionsgemeinschaften unter läuft und die Bemühungen des interreligiösen Dialogs torpediert. Seit Jahren funktioniert das multireligiöse Zusammenleben - auch mit der islamischen Gemeinschaft - mehrheitlich gut. Eine grosse Anzahl von interreligiösen Projekten hat zudem einen Prozess des gegenseitigen Kennenlernens und der respektvollen Begegnung zwischen "einheimischen" und "zugewanderten" Religionen, insbesondere mit dem Islam, in Gang gesetzt, der nun gefährdet wird.

. sie versucht, Assimilation statt Integration zum Modell eines friedlichen Zusammenlebens zu machen. Erfolgreiche Multikulturalität beruht auf der Erkenntnis, dass kulturelle und religiöse Vielfalt eine Stärke und keine Schwäche ist.

. sie einseitig eine bestimmte Religionsgemeinschaft diskriminiert und die Rechtsgleichheit verletzt. Allein die muslimische Gemeinschaft würde durch einen Verfassungsartikel in der Gestaltung ihrer Gebetshäuser eingeschränkt, während die religiösen Bauten aller anderen Religionsgemeinschaften weiterhin nur dem lokalen Baurecht unterstehen.

. es nicht akzeptabel ist, einer Religionsgemeinschaft von aussen eine bestimmte Definition und Interpretation ihrer Symbole aufzuzwingen. Es ist grundsätzlich Sache der Religionsgemeinschaften selber, welche Bedeutung sie ihren Symbolen geben, d.h. ausschlaggebend ist allein, wie MuslimInnen das Minarett verstehen.

. es nicht stimmt, dass Kirchtürme ausschliesslich eine religiöse und Minarette ausschliesslich eine politische Bedeutung haben. Weder Kirchturm noch Minarett haben eine theologische Bedeutung. Beide können in einem bestimmten Kontext als Status- oder Machtsymbol dienen. Beide haben aber vor allem eine symbolische und praktische Funktion als sichtbares Zeichen der Präsenz der Religionsgemeinschaft im öffentlichen Raum und zeigen an: Hier ist ein Gebetshaus der ChristInnen bzw. der MuslimInnen.

. die Missachtung der Religionsfreiheit von ChristInnen in islamischen Ländern in keiner Weise die Verletzung der Religionsfreiheit von MuslimInnen bei uns rechtfertigt. Unrecht in einem anderen Land kann niemals Unrecht im eigenen Land rechtfertigen, geschweige denn zum Recht erhoben werden. Damit wird ein Rechtsstaat wie die Schweiz mit Füssen getreten.

. es zu verhindern gilt, dass die Muslime von heute die Katholiken von gestern werden. Mit den gleichen Argumenten wie heute die MuslimInnen wurden im Kulturkampf des 19.Jahrhunderts die KatholikInnen bekämpft und u.a. auch am Bau von Kirchtürmen gehindert. Der religiöse Ausnahmeartikel zum Bau von Minaretten wird ausgerechnet an der Stelle in der Bundesverfassung Platz finden, wo bis 2001 der Bistumsartikel stand.

. sie den sozialen und religiösen Frieden gefährdet. In weiten Kreisen wird die Initiative als grundsätzlich islamfeindlich aufgefasst. Sie provoziert und schürt Konflikte zwischen der schweizerischen muslimischen Bevölkerung und der übrigen Gesellschaft.

. sie eine Abschottung der muslimischen Gemeinschaft bewirkt und die Scharf- macher auf beiden Seiten stärkt. Einzige Gewinner sind in dieser Sache die Radikalen auf beiden Seiten. Die Einen werden den verstärkten Rückzug und sogar Kampf gegen diese Gesellschaft propagieren und die Anderen werden künftig ihre Abneigung gegen alles Muslimische nur noch offener und unverhohlener zeigen (dürfen).

. sie dem Schweizeischen Geist von Freiheit, Toleranz und humanitären Werten grundlegend widerspricht. Eine der grossen und mühevoll erkämpften Errungenschaften der Schweiz, nämlich der Schutz der Rechte von Minderheiten und die gelebte Vielfalt verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen, wird durch die Initiative leichtfertig aufs Spiel gesetzt.


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