Missbrauch und Übergriffe in der katholischen Kirche

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Ina Praetorius: Weinerliche Schuldbekenntnisse helfen nichts.
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Eva Grundl, Chefredaktorin ostschweizerinnen.ch. Bild: Thommy Gebhart.

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Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sorgen weltweit für Entsetzen und Entrüstung, die Folgen sind nicht absehbar. ostschweizerinnen.ch hat die Theologin und Autorin Ina Praetorius zum Thema befragt.

 

Eva Grundl

14:06:2010

 

Eva Grundl: Seit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gibt es beinahe unendlich viele Kirchenaustritte. Was genau sind Ihrer Einschätzung nach die Argumente und Gründe der  Menschen, die der Kirche den Rücken zuwenden?


Ina Praetorius: Das Fass läuft über. Die Leute sind nicht mehr bereit, sich von Kirchenmännern alles bieten zu lassen, bloss weil es Kirchenmänner sind, die einander, angeblich in Gottes Namen, höhere Weihen zugesprochen haben.

Ich bin froh, dass es endlich so weit gekommen zu sein scheint: viele Gläubige stimmen mit den Füssen ab und verlassen die Kirchen. Ich sage bewusst: viele „Gläubige“. Denn es geht ja meistens nicht darum, dass die Leute aufhören, an Gott zu glauben, also an einen umfassenden liebevollen Sinn des Ganzen und an die Würde unserer biblisch-christlichen Tradition.


Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen, dass nicht diese Art Grundvertrauen verloren geht, sondern die Überzeugung, sie sei in der Institution Kirche gut aufgehoben. Oft sind diejenigen, die austreten, ernsthaftere ChristInnen als die anderen, die immer noch drin bleiben. Die gewalttätigen Übergriffe sind ja nur die Spitze eines Eisbergs.


Es gibt da noch viel mehr: Den Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt, den Pflichtzölibat, die Arroganz gegenüber mutigen Theologinnen und Theologen, die unwürdige Art, Macht über die Seelen auszuüben, die bestürzende Denkfaulheit... - Natürlich gibt es auch Leute, die einfach aus Gleichgültigkeit austreten, oder weil sie die Kirchensteuern einsparen wollen.

Aber das ist nicht die Mehrheit. Ich komme gerade von einem Seminar mit der bekannten amerikanisch-buddhistischen Umweltaktivistin Joanna Macy. Sie sagt, dass Institutionen, die um des Machterhalts willen die Ehrfurcht vor dem Lebendigen aufgegeben haben, irgendwann von selber in sich zusammen fallen. Es gibt ja heute gute Alternativen zur klassischen Kirchlichkeit, die den spirituellen Sehnsüchten der Menschen verantwortungsvoll entgegen kommen.

Die Leute, die sich von der Kirche abwenden, stehen also nicht im Leeren, sondern können andere Räume betreten, in denen viel gutes Neues entsteht. Arrogante Kirchenleute tendieren dazu, all diese Alternativen als „Esokram“ oder „Neuheidentum“ zu bezeichnen. Das zeigt aber nur, dass sie einfach nicht genau hinschauen wollen und alles, was nicht brav christlich daherkommt, in einen Topf werfen.


E.G.: Welche Reichweite haben die Missbrauchsfälle wie auch die Austritte mittel- und langfristig für die katholische Kirche? 


I.P.: Das ist schwer vorauszusagen. Langfristig hoffe ich eigentlich immer noch, dass die Hierarchie sich zum Lebendigen bekehrt, zu Jesus von Nazareth, den man in Gottesdiensten ständig „bekennt“, ohne darüber nachzudenken, was seine markant unangepasste Gott-Bezogenheit eigentlich bedeutet.


Die Talarträger hätten ja täglich die Freiheit, zu ihren eigenen Quellen zurückzukehren, sich aus den Impulsen der eigenen Tradition heraus neu zu besinnen. An der „Basis“ passiert das ständig, denn dort und im weltweiten theologischen Gespräch ist in den vergangenen Jahrzehnten unglaublich viel Gutes passiert. Die da oben müssten sich eigentlich nur einer wunderbaren Bewegung anschliessen, die längst im Gange ist: in der christlichen Ökologie, in interreligiösen Gesprächen, im Feminismus, in den Befreiungstheologien...

Die vielen Verletzungen der Menschenwürde in kirchlichen Institutionen, die jetzt bekannt werden, könnten nun allerdings darauf hindeuten, dass die Persönlichkeiten der Priester durch das Zwangssystem der Hierarchie schon so stark deformiert sind, dass das notwendige offene Zuhören gar nicht mehr möglich ist.


Da gibt es so viel Angst, Verkrampfung und Unfähigkeit, mit menschlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen achtsam umzugehen. Joseph Ratzinger zum Beispiel scheint, bei aller scharfen Intelligenz, einfach nicht mehr fähig zu hören, was wir anderen ChristInnen zu sagen haben. Wenn die Deformation tatsächlich schon so weit fortgeschritten ist, dann wird die Kirche als leere Hülle einstiger Macht noch eine Weile weiterbestehen und dann irgendwann in sich zusammenbrechen. Wo die Heilige Geistkraft nicht mehr weht (Joh 3,8), da gibt es kein glaubwürdiges Motiv mehr für Macht.


E.G.: Worin sehen Sie die Ursachen für die Missbrauchsfälle begründet? Gibt es Strukturen und  Mechanismen, die den Missbrauch ermöglichen und auch das jahrelange Schweigen darüber?


I.P.: Der wesentliche Grund liegt darin, dass wir im Westen seit Jahrhunderten mit einer symbolischen Ordnung leben, die „das Männliche“ als etwas Höheres, Geistiges, Körper- und Bedürfnisloses definiert. „Gott“ ist in dieser Ordnung immer „oben“ und unantastbar, er ist als männlich, frei, reiner Geist und absolut kontrollberechtigt vorgestellt.
Diesem „Höheren Männlichen“ sollen wir sündigen Menschen – vor allem wir Frauen, die wir Körperlichkeit und Abhängigkeit darzustellen haben – uns bedingungslos unterordnen. „Hier auf Erden“ ist – in der katholischen Kirche - das höhere kontrollberechtigte „männliche“ Prinzip durch die zölibatäre Priesterkaste repräsentiert. Wenn nun Priester hinter verschlossenen Türen Kinder und Jugendliche für die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse benutzen, dann zeigt sich daran einfach, dass das „höhere Männliche“ eine Fiktion ist, eine sehr schädliche und unmenschliche Fiktion. Wir alle, Frauen und Männer, Priester und Ungeweihte, sind doch immer gleichzeitig Körper und Geist, frei und abhängig, geboren und sterblich, Kultur und Natur.


Wir sind alle gleich bedürftig, brauchen Nahrung und Zuwendung und Zärtlichkeit. Wer behauptet, über solche „niederen Bedürfnisse“ per Männlichkeit oder sonst eine höhere Weihe erhaben zu sein, belügt sich und andere. Dass die strukturelle Gewalttätigkeit der Priester jetzt endlich im Licht der Öffentlichkeit angekommen ist, wäre eine Chance, die zweigeteilte symbolische Ordnung als solche zum Thema zu machen und aus den Angeln zu heben.
Wenn jetzt aber sogar sogenannt fortschrittliche Kreise behaupten, das Problem lasse sich durch die Aufhebung des Zwangszölibats lösen, dann weiss ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wir wissen doch längst, dass weitaus die meisten sexuellen Übergriffe in Ehen und Familien stattfinden. Das Problem wäre also nur verschoben aus der einen in die andere institutionelle Verkörperung der verkehrten Ordnung.

Im übrigen bietet die klassische Sühnopfertheologie ja geradezu ein Vorbild für körperliche Gewalt.
Ihr zufolge hat Gott selbst seinen Sohn für einen guten Zweck, nämlich die Erlösung der sündigen Menschheit, geopfert. Ich sage nicht, dass sich die Opfertheologie nicht auch anders und besser auslegen lässt. Aber solange es verboten ist, darüber nachzudenken, ob zwischen diesem sadistischen Gottesbild und unserem Umgang mit anderen Menschen ein struktureller Zusammenhang besteht, ist die Diskussion blockiert.


E.G.: Sind Ihnen als Theologin Vorfälle dieser Art, also sexuelle und andere gewalttätige Übergriffe, aus anderen Glaubensrichtungen bekannt?


I.P.: Gewalttätige Übergriffe gibt es überall: in der Arbeitswelt, in den Familien, in Schulen, im Tourismus, in Religionsgemeinschaften. Es handelt sich ja eben nicht um einzelne moralische Fehltritte, sondern um eine logische Konsequenz, einen integralen Bestandteil der noch immer wirksamen, wenn auch allmählich zerbröselnden symbolischen Ordnung.


Zwar steht inzwischen in den meisten Verfassungen, dass alle Menschen eine gleiche, unantastbare Würde besitzen. In der Schweizer Bundesverfassung ist sogar die „Würde der Kreatur“ geschützt.

Trotzdem glauben wir alle immer noch, dass es Menschen gibt, die „höher“ und wichtiger und besser sind als andere. Solange wir diesen inzwischen weitgehend ins Unbewusste abgedrängten Glauben nicht offen bearbeiten, werden wir das Problem nicht aus der Welt schaffen.

Der Glaube ans „höhere rationale Männliche“ verkleidet sich immer wieder neu: Der Priester wird gezwungen oder zwingt sich selbst, „reiner, unkörperlicher Geist“ zu werden. Weil das nicht geht, vergreift er sich heimlich an Kindern und Jugendlichen in der Hoffnung, dass sie nichts verraten.


Den Ehemännern hat man Jahrhunderte lang erzählt, sie seien „Herren im Haus“, weil auch sie angeblich eben dieses höhere Prinzip repräsentieren, wie die Priester. Vergewaltigung in der Ehe galt deshalb Jahrhunderte lang als natürliches Mannesrecht. Die Ehefrauen – und oft auch die Kinder, und natürlich daneben die Prostituierten - waren gewissermassen dazu da, die peinliche Körperlichkeit des Herrn hinter verschlossenen Türen über sich ergehen zu lassen, damit der feine Herr in der Öffentlichkeit als souveränes, überlegenes Wesen in Erscheinung treten konnte.

Und auch der Chef hielt sich bis vor kurzem für berechtigt, Untergebene für seine Triebabfuhr zu benutzen. Die sozialen Zusammenhänge sind verschieden, die kognitive Grundstruktur ist überall dieselbe.


Es ist zwar wichtig, heute unmissverständlich zu sagen, dass die Kirchen wesentlich dazu beigetragen haben, diese falsche Ordnung mit pseudoreligiösen Argumenten abzusichern und immer neu aufzurichten. Aber wer behauptet, sexuelle Übergriffe seien nur ein katholisches Problem, verharmlost das Ganze. Die patriarchale Ordnung prägt uns alle auf irgendeine Weise, ob wir das wollen oder nicht.


E.G.: Was genau muss die katholische Kirche tun, um das verloren gegangene Vertrauen der Menschen wieder aufzubauen?


I.P.: Weinerliche Schuldbekenntnisse brauchen wir ebenso wenig wie zornige oder hämische Schuldzuweisungen. Was wir brauchen, ist das Eingeständnis, dass die Kirche über Jahrhunderte eine falsche und zerstörerische symbolische Ordnung aufrechterhalten und immer wieder neu bekräftigt hat.


Und dass sie dadurch ihre eigene befreiende Message – theologisch ausgedrückt: das Evangelium – unterdrückt hat. Ein solches Eingeständnis habe ich noch nie von einem kirchlichen Amtsträger gehört, auch in meiner eigenen protestantischen Kirche nicht. An dem Tag, an dem dies zum ersten Mal passiert, werde ich eine Party veranstalten, zu der auch Priester eingeladen sind.


E.G.: Was kann und was muss getan werden für die Opfer?


Diejenigen, die von den gewalttätigen Übergriffen betroffen sind oder waren, brauchen geschützte Räume, in denen sie ihre persönlichen Geschichten zusammen mit vertrauenswürdigen Personen aufarbeiten können. Und sie brauchen, wie wir alle, eine differenzierte öffentliche Debatte, die ans Licht bringt: es geht nicht um vereinzeltes moralisches Versagen, weder auf der Täter- noch auf der Opferseite.

Es geht um verkehrte Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, die uns alle prägen und die wir, wenn wir sie endlich offen anschauen, aus den Angeln heben können. Zum Glück bröckelt die zweigeteilte Ordnung ja längst an allen Ecken und Enden auseinander.


Wäre es nicht so, hätte die Öffentlichkeit nichts von den Übergriffen erfahren. Zum Glück haben wir uns inzwischen – mit Hilfe vieler ChristInnen, aber meist gegen den Widerstand der kirchlichen Hierarchie - darauf geeinigt, dass wir alle eine unantastbare Würde besitzen.

Erst von diesem Kriterium her ist es ja möglich, das Unrecht, das geschehen ist, als solches zu erkennen und zu benennen.


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