"Das Paradies ist weiblich"

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Colers Reise ins Matriarchat der Mosuo ist spannend, auch wenn sie einige Schwachstellen birgt.
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Offenbar macht das weibliche Paradies auch die männliche Bevölkerung glücklich, denn es gibt keine Klagenden.

Der Autor

Ricardo Coler ist 53 Jahre alt, Arzt, Journalist und Fotograf. Als Argentinier entstammt er einem klassischen Patriarchat, also einer nach wie vor ungetrübt männlich geprägten Gesellschaft. Darüber ist er sich bei dieser Reise sehr bewusst, und das macht einen Grossteil des Charmes seiner Schilderungen aus. Ein Macho ist Coler aber nicht, sondern er nähert sich dem "weiblichen Paradies" mit Offenheit und Sympathie. Und, natürlich mit einem chinesischen Dolmetscher. Verständigungs-
schwierigkeiten gab es trotzdem immer wieder, denn für einige Dinge haben die Mosuo einfach keine Worte: "Eifersucht", "Altersarmut", "Vereinsamung", "Zickenterror", "Pantoffelheld", "alleinerziehend", "Scheidungskrieg". Das Buch ist eine Reise in ein fremdes Universum und damit in eine ganz andere Lebensform, weil sie auf andersartigen Werten basiert. "Typisch männlich" und "typisch weiblich" werden grundsätzlich hinterfragt. Eine tolle Erfahrung, ein unbekanntes Denken und grosse Aha-Erlebnisse. Einiges wird zwar nur kurz angerissen, doch Denkanstösse gibt das Buch allemal.


Ricardo Coler
Das Paradies ist weiblich
Verlag:
Kiepenheuer
ISBN-10: 3378011033


Wenn ein Mann sich für das Zusammenleben im Matriarchat interessiert wie dies beim Journalisten Ricardo Coler der Fall ist, und wenn er über seine Beobachtungen und Erfahrungen ein Buch verfasst, dann ist dies einen Lesetipp Wert - und sollte er nur zum Nachdenken, Hinterfragen oder Weitersuchen anregen.

 

Cornelia Forrer

11:08:2009

 

Montatelang lebte der Argentinische Arzt und Journalist Ricardo Cole im Süden Chinas unter den Mosuo. Hier wollte er erforschen, wie eine Gesellschaft funktioniert, in der Frauen - und nicht Männer - das Sagen haben. Beim Volk der Mosuo in Südchina besitzen die Frauen Grund und Boden und die Erbfolge erfolgt über sie. Die Familienvorstände sind weiblich. Frauen organisieren und entscheiden, sie erledigen aber auch beinahe die gesamte Arbeit, vom Haushalt bis zur Feldarbeit. Gewalt ist verpönt in dieser Gesellschaftsform und nach Materiellem strebt hier keiner. Kinder werden von Frauen und Männern gemeinschaftlich aufgezogen und leben grundsätzlich und lebenslang bei den Müttern. Der Autor beschreibt anschaulich, wie er auch Männer suchte, die sich gegen das Matriarchat auflehnen. Doch er fand keine, denn schliesslich werden diese von vielen Frauen bekocht, umsorgt und nur hin und wieder um Mithilfe gebeten.

Es funktioniert friedlich
Dass es früher schon Kulturen gab, in welchen die Frauen das Sagen hatten, ist hinlänglich bekannt. Im Buch Ricardo Colers trifft die/der Lesende auf eine Kultur eines 35'000 Menschen umfassenden Volksstammes in China, die unwirklich und doch friedlich Patriarchat und Matriarchat vereint. Entgegen der bekannten patriarchalen Strukturen, welche die Frauen meist in den Nebel verbannt, haben die Männer des Mosuo-Matriarchates dennoch ihren festen Platz. Nach Colers Beschreibung funktioniert es recht friedlich, wenn Männer faulenzen, während die Frauen die hohen Plätze in der Gesellschaft einnehmen. Die Frage ist hier zwar die, ob wir Westländer uns dies wünschen würden. Doch dies nur nebenbei!

Die sexuelle Selektion verläuft ähnlich dem Tierreich, wo der weibliche Teil den Fortpflanzungspartner wählt. Schon Charles Darwin berichtete hiervon eingehend. Dies alleine macht eine dauerhafte Paarbindung unmöglich. Auch scheint die Unterdrückung der Information über die biologische Vaterschaft dann klar, weil das Weibchen sich mit mehreren Männchen paart. In anderen menschlichen Gesellschaften findet eine beiderseitige Selektion statt, bevor man sich entschliesst, sich fortzupflanzen. Wenn die Gesellschaft so funktioniert, dass keiner fragt, wieso sollte diese Form dann problematisch sein? Und es ist ja nicht so, dass eine Mosuo, die sich in einen Mann verliebt, mit mehreren Männern schlafen würde. In diesem Falle bleiben die beiden sich treu - auch wenn der Mann weiterhin im Haushalt seiner Mutter lebt.

Einstellungen sind veränderbar
Was bewegt nun einen Mann, sich mit dem Matriarchat zu beschäftigen? War seine Mutter eine besonders starke und dominierende Frau? Sie sei sehr charmant gewesen, so der Autor, auch wenn er sich nachträglich oft frage, ob sie nicht doch mehr bestimmt habe, als äusserlich wahr genommen wurde. Auf der Suche nach dem Besonderen, beschäftige ihn die Wirklichkeit von Ansichten, Vermutungen und Lebensumständen. "Wenn ich heute zu einer Frau sage, sie kann die Machtverhältnisse nicht ändern, wird sie mich wahrscheinlich umbringen. Aber vor 200 Jahren hätte sie mir nur schweigend zugestimmt", sagt Coler und betont, dass Lebenseinstellungen sehr wohl veränderbar seien. Die Mosuo hätten sich den Veränderungen stets angepasst, seien aber nach der Mao-Regierung wieder zu ihren traditionellen Familienverbänden zurück gekehrt.

Wichtig sei zu wissen, dass die Mosuo eine andere Auffassung von Macht und Geld hätten, so der Autor. Sie lebten deshalb kein vertauschtes Patriarchat. "Wenn Männer die Bosse sind, lassen sie arbeiten und üben nur die Kontrolle aus. Frauen dagegen leben inmitten ihrer Grossfamilie und arbeiten sehr hart mit", nennt Coler als wichtigen Unterschied. In unserer Gesellschaft erwarte man, dass ein Sexualpartner Geliebter, Freund, Ernährer, Familienvater, etc. zugleich sei, was eine einzige Person kaum zu vereinen wisse. Bei den Mosuo reiche es, Geliebter zu sein. Doch wie merkt dann eine Frau, wenn sie sich verliebt hat? "Liebe ist, wenn sich eine Frau mit dem Mann unterhalten will und kann", betont Coler. Spannend ist es zu verfolgen, wie selbst Stammesführerinnen in der Dunkelheit flirten, verführen und den Blick senken. Am Tag markieren sie dann wieder die Führende. "Sie haben die Macht, das ermöglicht ihnen, sich weiblich zu gebärden und den Mann mannhaft wirken zu lassen", erklärt der Autor.

Es gibt andere Probleme
Löst sich dann bei den Mosuo alles in Wohlgefallen auf? Nein, Probleme gibt es auch dort, dann nämlich, wenn ein Mädchen zum Studieren nach Peking zieht und damit die materialistische Moderne kennen lernt. "Wenn Touristen in diese isolierte Gesellschaft kommen und Geld bringen, ist das der Anfang vom Ende", sagt Coler. Der Erforscher unberührter Zivilisationen löse stets Zerstörungen aus. Er selber suche Antworten auf Fragen wie "das Wesentliche an der Weiblichkeit" oder "das Gemeinsame in unterschiedlichen Gesellschaften". Gelernt habe er bei den Mosuo, dass ein Zusammenleben ohne jegliche Gewalt und andere Arten der Liebe möglich seien. "Ich sehe Frauen nun mit anderen Augen", auch wenn er sie weiterhin nicht verstehe, fügt er dann an.



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Yang Erche Namu und Christine Mathieu
Das Land der Töchter: eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört
Ullstein Verlag
ISBN 10-3548259596

Heide Göttner-Abendroth
Matriarchat in Südchina: Eine Forschungsreise zu den Mosuo
Verlag Kohlhammer W.
ISBN 10-317014006X

 


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