Immer schön locker bleiben, Herr Hollstein

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Männer können und sollen sich verändern, sagt Patricia Ertl.
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Ein verzerrtes Männerbild erschwert klare Verhältnisse.

Männerforscher Hollstein publiziert regelmäßig in der Zeitschrift "Natürlich leben." Seinen Beitrag vom September 2010 lesen Sie hier.

Schon im Editorial der Zeitschrift "Natürlich leben" prophezeit Chefredaktor Markus Kellenberger, die Bestandesaufnahme von Walter Hollstein werde wohl nicht allen Frauen gefallen. Seine Äusserungen rufen tatsächlich nach einer Erwiderung und so möchte ich meine kritischen Überlegungen in einem Leserinbrief darlegen.

 

Patricia Ertl

17:11:2010

 

Es trifft fraglos zu, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich in grossen Wandlungsprozessen befindet. Beide Geschlechter sind aufgefordert, ihre Rollen neu zu kreieren. Dass dies nicht automatisch und von alleine geht, versteht sich von selbst. Es braucht Arbeit, Engagement, Phantasie. Da ist jedes Individuum herausgefordert.

Es gibt, seien wir froh, keine Patentrezepte und kollektive Vorschriften mehr, auch wenn manche sich das wünschen. Nach mehreren Tausend Jahren Patriarchat haben die Frauen in ihrem Kampf für Gleichberechtigung dabei eine entscheidende Schwelle erreicht beim Übergang in ein Neues Zeitalter, das hoffentlich für beide Geschlechter das Leben auf diesem Planeten mehr fördern wird als Krieg und Zerstörung.


Walter Hollstein übernimmt nun mit seinem Artikel eine sehr seltsame Rolle. Er untersucht verschiedene gesellschaftliche Bereiche auf ihre geschlechterrollen-spezifischen Tatbestände. Daran ist nichts auszusetzen, seine Beobachtungen treffen zu (ausser seiner Behauptung, Machtpositionen und Vorzüge seien nur auf einen sehr kleinen Kreis von Männern beschränkt, sozusagen auf wenige Einzelfälle).

Bei seiner subjektiven Interpretation dieser Feststellungen fällt jedoch durchgehend auf, wie pessimistisch und negativ er die Situation der Männer in der heutigen Zeit sieht. Ganz abgesehen davon, dass viele seiner Feststellungen auch Frauen betreffen: so sind z.B. auch Frauen lohnabhängig und von Arbeitsplatzverlusten betroffen; Frauen müssen sogar Mehrfachbelastungen ertragen und trotzdem werden sie älter.


Walter Hollsteins Tonfall wird geradezu selbstmitleidig, wenn er Beispiel für Beispiel suggeriert, wie schlecht die Männer doch heutzutage wegkommen. Es entsteht der Eindruck, dass er sein eigenes Geschlecht in eine fatale Opferrolle hineindefiniert, ohne dafür mit Klarheit Gründe aufzuführen. Unterschwellig ist jedoch spürbar, dass er den Frauen, insbesondere den emanzipierten Frauen, um nicht gar das Wort Feministinnen zu gebrauchen (deren Wahrnehmungen und Beobachtungen er als fragwürdig hinstellt), die Schuld an dieser männlichen Misere zuschreibt.


Welch ein Jammer, diese ganzen Negativlisten der heutigen Männlichkeit! Der Autor klagt und jammert, stellt aber keine Fragen nach den pragmatischen Ursachen so mancher seiner aufgelisteten Minusbilanzen. Warum z.B. weisen Frauen inzwischen die bessere Schulbildung auf? Warum ist die männliche Arbeitslosenquote höher als die weibliche? Warum sitzen in den Gefängnissen 95% Männer? Warum gehen heute 80 Prozent der Trennungen und Scheidungen von Frauen aus?

Ich bin 51 Jahre alt und arbeite schon mein Leben lang in sozialen Berufen. Dabei konnte und kann ich verschiedene Beobachtungen machen, wie z.B. die folgenden: im allgemeinen lernen die Mädchen an den Schulen schlicht und einfach mehr. Sie sind fleissiger und sozial besser angepasst, und zwar sowohl bei männlichen wie weiblichen Lehrpersonen. Dadurch erzielen sie bessere Ergebnisse.


Dies gilt auch für weite Bereiche im Sektor Arbeitslosigkeit (wobei ich hier keine Diskussion anfachen will über die Frage, inwiefern Haus- und Familienfrauen bei solchen Statistiken erfasst werden und welche Tätigkeiten in unserer Gesellschaft als „Arbeit“ gelten).

Zudem verstrickt sich Walter Hollstein hier in eigene Widersprüche: einerseits moniert er, die Männer seien in ihren Berufen grösseren körperlichen Gefahren und Unfällen ausgesetzt; andererseits beklagt er den Zusammenbruch genau dieses „traditionellen männlichen Arbeitsmarktes“ und die Entwicklung der Wirtschaft zum „weiblichen“ Dienstleistungsgewerbe. So oder so erscheint dem Autor die Lage zum Nachteil der Männer.


Bei meiner derzeitigen Arbeit auf einem Sozialamt („gesellschaftlicher Bodensatz von Obdachlosen, chronisch Kranken, Randständigen, Wanderarbeitern usw.“) in einer schweizerischen Kantonshauptstadt stelle ich jedenfalls fest, dass Frauen, sofern sie keine Kleinkinder zu betreuen haben, in der Regel schneller von der Sozialhilfe abgelöst werden können als Männer.

Frauen strengen sich mehr an, sind realitätsbezogener, flexibler und nehmen Einschränkungen zugunsten ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit viel eher in Kauf. Viele Männer hingegen, vor allem solche der jüngeren Generation, pflegen sehr hohe Anspruchshaltungen der „Gesellschaft“ gegenüber und zeigen wenig Bereitschaft, ihrerseits beizutragen zum Funktionieren einer Gemeinschaft.


In Beziehungen neigen viele Männer dazu, die Verantwortung für die unabdingbare Pflege der täglichen Kommunikation auf ihre Partnerinnen zu schieben. Sie ziehen sich lieber ins Schweigen zurück und wundern sich dann, wenn die Frauen nicht bereit sind, das hinzunehmen. Und woran könnte es wohl liegen, dass Männer auch beim eigenen Geschlecht keine tragenden sozialen Kontakte („wirkliche Freunde“) aufbauen können? Mich wundert schon fast, dass an dieser Stelle kein indirekter Seitenhieb kommt auf irgendwelche Fehler der Mütter.


Auch was die einschlägig bekannte männliche Gewalttätigkeit betrifft oder die Flucht in Alkohol und Drogen, so fragt Walter Hollstein nicht, was Männer im konstruktiven Sinne tun könnten, um alternative Wege zu gehen (z.B. rechtzeitig adäquate Hilfe in Anspruch zu nehmen, bevor sie sich selber oder andere umbringen).

Es bringt sie nicht weiter, wenn sie aus Frust dreinschlagen und nachher über die Folgen jammern. Daraus entsteht höchstens neuer Frust. Und die Leidtragenden sind, das blendet der Autor gekonnt aus, oft genug nach wie vor Frauen und Kinder.


Walter Hollstein beklagt die krank machenden Strukturen der Gesellschaft und die Zwänge der Arbeitswelt für Männer, scheint aber nicht zu erkennen, dass ebendiese Strukturen und Arbeitshierarchien weitestgehend noch von Männern definiert, aufgebaut und weiter aufrecht erhalten werden. Statt sich selber als Opfer zu produzieren, sollten Männer sich jedoch vielmehr selbstkritisch fragen, was ihr eigener Beitrag zu diesen Problemen ist und was sie selber tun könnten, um eine Wende zu bewirken.

In den Ausführungen des Autors ist leider kein einziger konstruktiver Ansatz zu finden, wie Männer aus eigener Initiative ihre Situation erfreulicher gestalten könnten. Im ganzen undifferenzierten Lamento über die „gesellschaftlichen Erwartungen“ wird kein einziges Mal die Frage nach der männlichen Selbstverantwortung gestellt.

Es entsteht der Eindruck eines weinenden kleinen Buben, der völlig hilflos vor dem Scherbenhaufen steht, den er selber angerichtet hat. Und im Interview mit Ivo Knill wird die Frage gestellt: „Wann endlich passiert in diesen Bereichen etwas, fragen sich viele Männer“


Es ist an der Zeit, dass Männer erwachsen werden und selber Verantwortung übernehmen für ihr Tun und Lassen, für die Konsequenzen ihres Verhaltens und ihrer Entscheidungen. Es geschieht nämlich nur dann etwas, wenn sie selber es tun. Ob diese Tat dann etwas Negatives oder Positives ist, das liegt in ihrer freien Wahl. Dafür können sie weder „die Gesellschaft“ (wer ist das konkret?), irgendwelche „politischen Instanzen“ noch die Kirche noch ihre Mütter noch ihre Partnerinnen oder andere Menschen und Gremien verantwortlich machen.

Sie selber sind es, die hier und jetzt anfangen sollten, das eigene Denken und Handeln, und somit auch die eigene Lebenssituation Schritt für Schritt zu verändern. Dazu hat jeder im eigenen Leben mehr als genug Möglichkeiten. Dafür gibt es individuelle und gemeinsame Wege. Die Entscheidung dafür kann jeder Mann aus der Potenz seines freien Willens selber treffen.


Ich bin froh, dass nicht alle Männer so fatalistisch denken wie Walter Hollstein und so eine Untergangsstimmung verbreiten. Die Folgen für die männliche Identitätsbildung sind heute nämlich nicht „verheerend“, wie uns der Autor in seinem Schlusssatz weismachen will, sondern ganz im Gegenteil: wir befinden uns, zumindest hier in der westlichen Welt, in einer Zeit mit so grossen Freiheiten, wie wir sie wohl seit Menschengedenken noch nicht hatten.

Erstmals in der Geschichte haben beide Geschlechter hier die echte Chance, ihre eigene Identität völlig neu zu kreieren. Viele Frauen haben sich schon lange auf diesen Weg gemacht und sind dabei, trotz Hindernissen und Widrigkeiten, mit aufblühender Kreativität ihre eigenen Biografien neu zu gestalten, und zwar durchaus im Bewusstsein gegebener Rahmenbedingungen und noch vorhandener Grenzen. Wo bleiben die Männer auf diesem Weg?


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