Mein reiches Leben mit einem speziellen Kind

31:07:2014

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Annina mit ihrer Mutter
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Annina mit ihrer Mutter

Ingrid Eva Liedtke

Praxis Herzenblühen
Minervastrasse 3
8032 Zürich
und
Stollen 32
8824 Schönenberg

www.herzenbluehen.ch

Vor neunzehn Jahre hörte ich per Zufall im Radio eine Diskussion über pränatale Diagnostik. Ich war hochschwanger, mit Zwillingen, unter dreissig und nahm an, dass mich dieses Thema nicht direkt betreffe.

 

Ingrid Eva Liedtke

 

Trotzdem interessiert, blieb mir das Votum einer Nonne besonders in Erinnerung. Sie sagte, dass wir Menschen mit einer Beeinträchtigung, einer Behinderung – der passende Ausdruck ist noch nicht gefunden – nicht verhindern sollten, denn sie sind für unser Leben und unsere Gesellschaft sehr wichtig, halten sie uns doch den Spiegel hin, dass sich Leben nie perfekt und genau nach unseren Wünschen und Vorstellungen abspielt und dass diese Menschen mit ihren ganz besonderen Gaben und Eigenschaften eine Bereicherung für unsere Leistungsgesellschaft darstellen. Wie richtungsweisend dies für mich noch sein würde war, mir in diesem Augenblick nicht bewusst, und ich hörte einfach interessiert zu, als sozusagen Nichtbetroffene.


Sechs Wochen später kamen meine Zwillinge zur Welt, ein Junge und ein Mädchen. Annina hatte ein Down Syndrom (wichtig: sie leidet nicht an einem Down Syndrom und sie ist auch nicht krank!) Ich habe mit keiner Hirnbewegung und auch nicht im Traum damit gerechnet. „Zum Glück“, kann ich nur sagen, denn mir ist dieser schwierige Entscheid, mich bewusst für oder gegen mein Kind zu entscheiden, erspart geblieben. Ich wüsste nicht, wie ich mit einer pränatalen Diagnose umgegangen wäre und darum habe ich jedes Verständnis für diesen sehr schwierigen Prozess. Ich bin der Ueberzeugung dass jedes Elternpaar, ja jede Mutter, die ein solches Kind in sich trägt, nur selber wissen kann ob sie dieser Verantwortung gewachsen ist. Gerade in dieser Zeit wäre es aber sehr hilfreich Beratung zu bekommen und für sich neue Zukunftsvisionen schaffen zu können. Diese sind nur möglich, wenn man weiss, was ein Leben mit einem Menschen mit Down Syndrom bedeuten kann und was auch nicht! Nichts, was unsere Kinder betrifft, ist wirklich planbar. Immer müssen wir uns einstellen auf das, was kommt und jedes Kind ist anders. Ich weiss es – ich habe drei! Visionen sind eine grosse Kraft, die uns in der Krise den Weg weisen kann.


Glücklicherweise wurde mir kurz nach der Geburt meiner Tochter eine solche geschenkt und dafür werde ich ewig dankbar sein, denn bis heute empfinde ich Annina als ein Geschenk. Damals, nicht sofort. Ich beschreibe in der folgenden Passage, was in mir ablief als der Kinderarzt mir seinen Bericht über Anninas „Zustand“  ablieferte:

Die Geburt und die Stunden danach waren sehr komprimierte, dichte Erlebnissequenzen, die sich in Lichtgeschwindigkeit abzuwickeln schienen:

Mein Kopf drohte zu zerspringen. Hunderttausend Gedanken zischten undefinierbar und wirr durch meinen Schädel. Alle Denkkanäle waren am Rotieren ohne dass sich mein Denken auf einem linearen Band fand. Meine Gefühlssensoren vibrierten gefährlich. Ein banaler Gedanke bahnte sich seinen Weg in mein Bewusstsein! " Wie schade, jetzt kann ich sie gar nicht hübsch anziehen, weil sie gar nicht hübsch ist" Dann: "Wie kann ich nur so etwas Verwerfliches denken! Pfui." Ich schämte mich für mich. Weg damit! Hinter dem ganzen Summen, Sirren, Brummen und Vibrieren in meinem Kopf stand die Vernunft schon auf Warteposition und die Moral reckte ihren Finger in die Luft. Meine Lebensfreude und mein Mut schlossen mit den beiden einen Pakt, sofort, vor Ort: Wir machen das Allerbeste daraus! Schon stiegen erste Bilder in mir hoch, die sich im Laufe der nächsten Tage, die ich noch im Krankenhaus verbrachte vervielfältigen. Ich malte mir ein Leben mit Annina aus. Ich setzte sie hinein in meine Zukunftspläne, wie bisher und machte da und dort ein paar Modifikationen, nahm einige Veränderungen vor. Ich stellte mir mein Leben vor mit diesem Kind, ein normales Leben, integriert in dieser Gesellschaft, ein Leben mittendrin. Ich erschuf mir eine Zukunftsvision, die mir möglich und lebbar schien und ich schöpfte daraus Hoffnung. Sie war noch ein sehr zartes Geschöpft, die Vision und auch meine kleine Tochter. Zusammen sollten die Beiden wachsen, was sie taten! Dann war ich sehr müde und und schlief erschöpft ein.


Am nächsten Morgen hielt ich mein kleines Mädchen erstmals im Arm. Annina!  Wie süss sie doch war! Ich schaute in ihre Mandelaugen und hielt ihr kleines feines Händchen. Tief drinnen in mir öffnete sich eine verborgene Tür und ein neues Wissen eröffnete sich mir. Dieses kleine Wesen wird mir helfen in mein Innerstes zu schauen und ich werde Schätze entdecken, die bisher verborgen waren. In diesem Augenblick wusste ich: dieses Kind wird Kräfte in mir wecken, die ich verloren glaubte. Annina hat mich stolz gemacht, auf sie, aber auch auf mich. Eine grosse Aufgabe, die da auf mich wartete und die ich angenommen habe, Kraft meiner Vision, die ich in der ersten Nacht fasste, der Vision von einem normalen, schönen Leben mit diesem Kind mit Down Syndrom, meiner Tochter Annina. Bis heute habe ich nie damit gehadert, dass Annina anders ist, denn ihre besonderen Fähigkeiten beschenken mich und ihre Umwelt jeden Tag.


Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten, die durch das nicht anerkannte Geburtsgebrechen entstehen aus eigener Erfahrung und hoffe sehr, dass diesbezüglich endlich ein Einsehen stattfindet. Auch habe ich lernen müssen, mich in Geduld zu üben – nicht meine Stärke – weil mit meiner Tochter nicht immer alles so schnell geht wie ich will. Und ich habe sehr viel über Akzeptanz gelernt. Annina musste nichts darüber lernen, weil sie jeden Menschen nimmt, wie er ist.


Akzeptanz ist die Voraussetzung für jede Integration und diese war mir immer ein wichtiges Anliegen auf diesem Weg. Integration ist nicht Gleichmacherei, das sollte man nie aus den Augen verlieren. Jeder Mensch ist einzigartig und sollte einen Platz finden dürfen, der für ihn passt und seiner Veranlagung entspricht.


Annina ist bis in die vierte Klasse in die Regelschule gegangen. Zusammen mit einem anderen Jungen, mit Sonderbedarf wurde sie integrativ geschult. Eine grosse Bereicherung für alle Beteiligten, die sich darauf eingelassen haben, solange es gepasst hat für Annina. Als dies nicht mehr optimal zu bewerkstelligen war, ist Annina in Wädenswil in die Heilpädagogische Schule übergetreten und hat da die neue Erfahrung gemacht, mit ihresgleichen zusammen zu sein. Dies ist natürlich auch ein abgedroschener Standard, denn keiner ist dem anderen wirklich gleich. Trotzdem darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass Anninas Schulkameraden in Schönenberg an ihr vorbeizogen und sie nicht mithalten konnte.


Unterdessen ist Annina neunzehn Jahre alt und lebt auf einer Jugendwohngruppe und hat sehr viel Spass, weil sie nicht schwächstes Glied ist, sondern eine wichtige Person in einer Wohngemeinschaft. Sie ist eine junge Frau mit eigenen Visionen und Wünschen für ihr Leben und ihre Zukunft. Es ist eine grosse Herausforderung, sie darin zu fördern und sie zu begleiten. Ich wünsche mir, dass sie sich selbst sein kann und sich zur Blüte bringen darf und muss mich dabei immer wieder überprüfen, wie weit ich eigene Wünsche auf sie projieziere. Nach den Sommerferien wird sie ihre Ausbildung beim Theater Hora beginnen und ich wünsche mir sehr, dass dies ihren Wünschen und Talenten entspricht. Falls nicht, werde ich ihr helfen, einen neuen Weg zu suchen und zu finden.


Annina ist eine junge Erwachsene mit Behinderung. Davon will sie nichts wissen. Auch ihr scheint instinktiv bewusst, dass all diese Begrifflichkeiten unbrauchbar sind. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie ein spezieller Mensch ist! Das ist sie und wir sind sehr stolz, dass sie zu unserer Familie gehört. Ich glaube, unser Leben ist einiges reicher mit ihr!


Ich wünsche mir, dass andere betroffene Eltern meine Erfahrungen auch machen dürfen und ihr spezielles Kind voller Freude in ihrer Familie willkommen heissen können. In meiner Praxis Herzenblühen berate und begleite ich sie mit einem ganzheitlichen Konzept, mit lösungsorientierten Elementen auf diesem Weg, der sehr viele Fragen aufwirft, aber durchaus auch individuelle Antworten bereit hält.

Herzenblühen, „Alles, was wir uns wünschen ist in uns angelegt, wir müssen es nur zur Blüte bringen.“



 

 




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