Die Chancen in der Krise

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Selma Mahlknecht. Bild: Conny Cossa.
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Der 39. Weltwirtschaftsgipfel findet wieder in Davos und ohne den US-Präsidenten Obama statt. Bild: WEF.

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Das neue Jahr hat grade erst angefangen, aber gefühlsmässig ist es schon so gut wie gelaufen. Selten haben uns Prognosen so sehr im Vorfeld eingeheizt, selten standen die Vorzeichen so klar auf Sturm wie 2009. Das Schlagwort lautet Finanzkrise, immerhin schon "Wort des Jahres 2008" - es hat das Potential zum Unwort des Jahres 2009.

 

Selma Mahlknecht

27:01:2009

 

Was nämlich so verharmlosend als "Krise" bezeichnet wird, klingt in den Analysen und Einschätzungen von "Experten" (die freilich immer mit Vorsicht zu geniessen sind) nach Sintflut oder Apokalypse oder The Day after Tomorrow. Noch aber ist es "heute", und an übermorgen zu denken, fällt uns wieder einmal schwer.


Sicher, das Netz schliesst sich zunehmend enger um uns, das spüren wir, zugleich aber bleibt das diffuse Gefühl, dass man selbst (also: wenigstens mein Land, meine Stadt, mein Haus, meine Familie, ich) wohl von der Krise verschont bleiben wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Also erst einmal abwarten, ob es dann tatsächlich so schlimm kommt. Immerhin wird keine Suppe so heiss gegessen, wie sie gekocht wird. Und da sind wir schon bei den "Sätzen" oder besser noch: "Unsätzen des Jahres", mit denen wir von Politik und Medien bis zum Überlauf angefüllt werden. Sie sind wohl als Trost gemeint und als Betthupferl, damit wir noch ruhig schlafen können.


 Mich aber beunruhigen solche Sätze. Wird die Suppe tatsächlich nicht so heiss gegessen? Und selbst wenn, müssen wir sie dann nicht trotzdem auslöffeln? Was, wenn sie versalzen ist? Und wer hat sie uns eingebrockt? Nein, wird mir jetzt jemand antworten, so klappt das nicht. Du darfst keine Gegenfragen stellen. Welcher Trost wollte da noch standhalten? Ein guter, möchte man meinen.

 

Ich habe aber schwer den Eindruck, dass es mit gut oder zumindest ernst gemeintem Trost nicht weit her ist. Das Einzige, was bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig wiederholt wird, ist der mittlerweile schon unerträglich gewordene Satz "In jeder Krise steckt eine Chance". Genau besehen, bedeutet er überhaupt nichts.

Die Beispiele, die einem dazu einfallen, sind deprimierend und wenig hilfreich. Sicher, es gab und gibt immer Menschen, die unsichere Zeiten, Naturkatastrophen oder Kriege für sich zu nutzen wussten und sich dadurch bereichern konnten. Im Zweiten Weltkrieg ist mancher Industrieller durch geschicktes Ausnutzen der Chancen, die ihm "die Krise" bot, zu sehr lukrativen Aufträgen und billigen Arbeitskräften gekommen.
Andere nutzten die Gelegenheit zu Plünderungen, Vertreibungen und Aneignung fremden Besitzes. Und es muss nicht immer ein Krieg sein. Auch im Hurrikan "Katrina" gab es durchaus die eine oder andere Chance, eben mal die Auslagen eines zerstörten Geschäfts leer zu räumen, wenn der Krempel schon so herumliegt.


Ach so, so war es gar nicht gemeint? Die Chancen, die in der Krise stecken, sind ganz andere? Nämlich, dass wir endlich in Angriff nehmen, was wir seit Jahren vor uns her schieben? Dass wir umweltfreundlicher, nachhaltiger, sozial verträglicher wirtschaften? Immer, wenn ich so etwas lese, frage ich mich, ob man die Hühner nicht bis in die Redaktionsstuben hinein lachen hören müsste.

 

Mir scheint, es ist vielmehr so, dass die Reichen und Mächtigen die Krise als Chance nutzen, erst recht nichts zu tun. Wir würden ja gerne, aber, Sie verstehen: Finanzkrise. Auf Kleinigkeiten wie Umweltvergiftung oder Armutsfallen können wir jetzt nicht auch noch Rücksicht nehmen. Und irgendwo muss jetzt auch eingespart werden. Bei Kunst und Kultur zuerst, das versteht sich wohl von selbst, das brauchen wir auch am wenigsten.

Dann bei der Bildung. Beim öffentlichen Verkehr. Bei den Familien. Bei den Rentnern. Und bei den Sozialschmarotzern sowieso, auch bei den potenziellen, also: beim einzelnen Bürger. Der Staat ist kein Selbstbedienungsladen für Faule und Unfähige (ausser, sie haben mit windigen Spekulationen Millionen von Euro in den Sand gesetzt, dann ist das ganz etwas anderes).

Und ausserdem steckt doch in jeder Krise eine Chance: Der Künstler hat endlich die Chance, aus seinem Elfenbeinturm zu steigen und das wahre Leben kennenzulernen ("Autorenförderung? Hungert sie aus!" forderte der Journalist Oliver Jungen schon im Frühjahr 2008 visionär in der FAZ). Kinder und Jugendliche haben die Chance, endlich selbsttätig ihren Horizont zu erweitern und aus eigener Kraft zur intellektuellen Elite aufzusteigen - wie wir wissen, würden sie das schon längst, wenn sie nicht dauernd von den störenden Lehrern daran gehindert würden.
Wenn die öffentlichen Verkehrsmittel zusammen- oder angesichts ihres Zustandes wohl eher: auseinanderbrechen, dann haben die Bürger endlich die Chance, sich in Fahrgemeinschaften zu organisieren oder zu Fuss zu gehen. Ist immerhin viel gesünder, als beengt in der Strassenbahn zu sitzen und sich mit den Keimen anderer anzustecken. Und so lassen sich noch beliebig "Chancen" behaupten, die uns die Krise schmackhaft machen sollen.

Irgendwie will bei mir aber keine rechte Freude aufkommen. Etwas ist faul an diesen "Chancen". Oder liegt das Problem bei mir? Ist es lebenserfahrungstechnisch nicht wunderbar, wenn man die einmalige Gelegenheit hat, am eigenen Leibe auszuprobieren, wie es sich als verarmter Mittelständler lebt?
Und kann nicht gerade durch die kollektive Erfahrung des Niedergangs ein neues, stärker empfundenes Gemeinschaftsgefühl ausgelöst werden, das uns zu einer solidarischeren Gesellschaft macht?

Ganz ehrlich: Solche Sätze halte ich für das leere Geschwafel Übersättigter, das nur mit Naivität oder Bösartigkeit zu erklären ist. Naiv ist es, wenn derjenige, der solchen Humbug von sich gibt, tatsächlich selbst daran glaubt. Bösartig, wenn er es wider besseren Wissens anderen "verkaufen" will.


Ich selbst sehe in der Krise nur eine einzige Chance: Endlich aus der Lethargie zu erwachen und die Fäuste zu schütteln. Es geht mir nicht um das blindwütige Toben eines entfesselten Mobs.
Es geht darum, dass jeder Einzelne sich zu der Entscheidung durchringt, sich gewisse Ungerechtigkeiten, Zumutungen und Frechheiten nicht mehr bieten zu lassen. Und es geht darum, endlich auch Gegenfragen zu stellen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Antworten deprimierend sind.
Der Staat ist kein Selbstbedienungsladen? Warum sind es dann die Taschen der Steuerzahler? Der Einzelne muss wieder mehr Verantwortung übernehmen? Warum fangen wir nicht bei den Grossverdienern an?


Warum so aggressiv?, schütteln jetzt manche den Kopf. Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. In Zeiten wie diesen ist es besser, wenn man sich duckt und möglichst keinem ans Bein pinkelt. Dann vielleicht hat man die Chance, seine Haut heil durch das Jahr zu bringen.
Es stimmt wohl: Wir sind noch immer zu satt, haben noch immer zu viel zu verlieren. Wir sind nicht bereit, für unsere Überzeugungen aufzutreten und dadurch unseren Job, unser soziales Netzwerk, unsere Reputation, unsere Unverdächtigkeit aufs Spiel zu setzen. Wir beissen in keine öffentliche Hand, selbst wenn sie uns nicht füttert. Vielleicht tut sie es ja noch irgendwann.


In fünfzig, hundert Jahren wird man vielleicht auf unsere Zeit zurückblicken und sich fragen: Warum haben die Menschen so lange stillgehalten? Sie sahen doch deutlich, wohin sie steuerten! War es die Lähmung des Kaninchens vor der Schlange? Und vielleicht wird dann einer sagen: Ach was. Sie haben nur auf ihre Chance gewartet.


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