Schlechter Ruf
Der berüchtigte schlechte Ruf des Skorpions rührt unter anderem daher, dass er in der klassischen Astrologie „das Haus des Todes“ war. Und wer hat schon gerne Tod? In einer patriarchalen Welt ist der Tod des Teufels. Er wird bekämpft mit aller Gewalt. Er darf nicht sein. Er ist ein Tabu. Es lässt sich feststellen: unsere modernhaft aufgeklärte Welt hat ein Problem mit Alter und Tod. Aufschreie hallen durch die Presse, wenn Dignitas wieder eine Leiche aus dem Haus im Nachbarquartier trägt. Ist uns das zumutbar?! Das Angesicht des Todes, auch wenn human verhüllt?
Natürlich
Die Bäume ertragen es, so scheint es mir, mit würdevoller Gelassenheit, dass ihnen der Sturm die Blätter vom Leibe fegt. Leiden sie unter diesem Verlust? Sie wehren sich nicht dagegen. Im zyklischen Ganzen aufgehoben wissen sie, dass der nächste Frühling kommen wird. Die Knospen für das nächste Jahr sind schon vorbereitet. So lassen sie auch in aller Stille ihre Blätter fallen, sanft. Ganz im Gegensatz zu uns Aufgeklärten, die oft noch versuchen, gleichsam mit Alleskleber die schon halb abgestorbenen Blätter an ihre Zweige zurückzukleben, nur damit wir die Illusion ewiger Blüte aufrechterhalten können… Solche Versuche gelingen stets nur auf Zeit. Denn alles irdisch Materielle ist sterblich.
Totsicher ist letztlich nur unser aller Scheiden aus dem Körper. Das Weizenkorn muss hinunter in die Erde (Joh. 12,24). Doch wir wollen es nicht wahrhaben. Verdrängung ist eine Kunst, die wir meisterhaft beherrschen, oft genug notgedrungen dazu schon seit früher Kindheit, um des Überlebens willen. Doch im Skorpion-Monat konfrontiert uns die Natur mit dem Thema Tod. Auf welcher Ebene wir uns damit befassen, wählen wir selber.
Grenzerfahrung
Wir Menschen brauchen oft erst eine Krise, um Dinge (oder Beziehungen) loslassen zu können, die uns nicht mehr gut tun. Obwohl wir leiden, klammern wir uns weiter am Schmerz fest. Zu gross ist die Angst vor einer unbekannten Zukunft. Lieber halten wir das tägliche Leiden fest, die verletzten Gefühle. Wir verharren in Mobbing-Situationen am Arbeitsplatz, aus Angst vor der Arbeitslosigkeit. Wir bleiben in Abhängigkeitsbeziehungen verstrickt, aus Angst vor Einsamkeit, Wahrheit und Selbstverantwortung. Wir fürchten finanzielle Verluste und nehmen für materielle Sicherheiten die Krankheit unserer Seele in Kauf. Wir realisieren nicht, wie sehr die Angst uns fesselt. Die Befreiung daraus erfordert Mut. Ängste können real sein oder riesige schattenhafte Ungeheuer in unseren Gedanken. Bis der Druck unerträglich wird. Oder bis ein Schicksalsschlag uns hinauszwingt aus bisherigen Bahnen oder Lebenslügen. Dann stürzt das gewohnte tägliche Leben zusammen. Wir fühlen uns ohnmächtig und am Boden zerstört. Manche suchen als Ausweg den Suizid.
Loslassen
Skorpion ist die grosse Lektion des Loslassens. Damit ist nicht Selbstzerstörung gemeint. Es gilt zu erkennen, was überholt ist und dem weiteren Weg nicht mehr dient. Blätterbäume im Winter würden unter der Last des Schnees zusammenbrechen. Ballast abwerfen kann eine grosse Erleichterung sein und uns frei machen! Befreiung von Altlasten! Sorgen wir rechtzeitig dafür. Dort wo Skorpion in unserem Horoskop steht, sind wir immer wieder aufgefordert, das Vergängliche nicht festzuhalten, sondern Lasten loszulassen.
Das kann Besitztümer oder Menschen betreffen. Aus Angst klammern wir uns an scheinbare Sicherheit und wollen die Kontrolle darüber erzwingen. Was bleibt noch von uns übrig, wenn Sturm oder Stille uns allen äusseren Beiwerks entledigen? Können wir unsere „Nacktheit“ ertragen, wenn alle Blätter gefallen sind? Doch Umgang mit Verlusten ist ein obligatorisches Schulfach des Lebens. Dort wo wir anhaften, wird uns Skorpion als Krise der Transformation einholen und als schwarze Schicksalsgöttin wieder zu sich nehmen, was sie uns einst gab. Das letzte Loslassen wird das Sterben sein. Die tägliche Übung dafür bekommen wir jeden Abend, wenn wir einschlafen.Voraussetzung dafür ist Entspannung und Vertrauen.
Der Weg in die Nacht
Der Herbst ist der Abend des Jahres. Unser Verhältnis zu Alter und Tod ist eng verknüpft mit unserer Beziehung zur Dunkelheit. Die westliche Welt meidet die Nacht. Wie schon im Waage-Artikel festgestellt, gibt es in der Schweiz keinen einzigen Quadratmeter mehr, wo natürliches Nachtdunkel zu erleben wäre. Die gesamte Atmosphäre ist erhellt von der gigantischen Kunstlicht-Verschmutzung unserer Zivilisation.
Welchen Wert hat da noch eine Kerze, wo doch eh schon alles künstlich erleuchtet ist? Wer von uns hat je schon echte, unverfälschte, wahrhaftige Dunkelheit erlebt? Und wenn wir uns dem aussetzen würden, wie ginge es uns dann? Liebe Leserin, kannst du Dunkelheit ertragen? Die Natur in diesen Wochen zeigt uns, dass der Abstieg in die Nacht des Jahres eine Gesetzmässigkeit ist, der wir uns nirgends dauerhaft entziehen können.
Die Natur, deren Teil wir sind, ist stärker als alle unsere Versuche, die Konfrontation mit der Nacht zu vermeiden, sei es äusserlich oder innerlich. Wobei ja nicht die Dunkelheit an sich ein Problem darstellt, sondern unsere Bewertung derselben, die es schwierig macht.
Angst vor der Dunkelheit
Wieso eigentlich? In der Dunkelheit begegnest du dir selbst wie nirgendwo sonst. Fürchtest du dich etwa vor dir selber? Manche mögen tatsächlich Grund dazu haben. Die Nacht konfrontiert uns mit unseren tiefstinneren Gedanken, Gefühlen, Projektionen. Lagst du schon nachts schlaflos im Bett? Warst du schon des nachts unterwegs, allein, und hast die Taschenlampe ausgeschaltet? Solche Dunkelheit macht hellwach! Sie schärft die Sinne wie kein Tag es vermag!
Hast du diese Intensität schon mal erlebt? Hast du dich schon hineingelockt gefühlt in diese Nacht, die so viele Geheimnisse birgt?.... Die Angst vor der Nacht wurde uns kollektiv angezüchtet. In den patriarchalen Sonnenkulturen kommt jeder Gang in die Tiefe der Dunkelheit einem Untergang gleich, der gefürchtet werden muss und den es zu vermeiden gilt. Nur Lichthelden dürfen den Weg in die Unterwelt wagen.
Licht um jeden Preis
Die patriarchale Philosophie der letzten fünftausend Jahre hat die Sonnengötter verherrlicht und das äussere Licht zum höchsten aller Werte erhoben. Licht wurde gleichgesetzt mit Mann, Vernunft, Geist, Gott. In der dualen Trennung wurde das Dunkle als böse erklärt, als weiblich, chaotisch, gefährlich. Oben war gut, unten war schlimm.
Oben Himmel, unten Hölle. Was die patriarchalen Definitoren zur dunklen Hälfte der Welt schoben, das wurde verboten, bekämpft, ausgerottet, in die Tiefe verbannt. Psychologisch ins Unterbewusste verdrängt. So wie die dreizehnte Fee im Märchen. Oder wie Lilith im hebräischen Mythos, die als erste Kämpferin für die Gleichberechtigung, sozusagen als Urfeministin, zum Nachtmahr dämonisiert wurde. Doch Ausgrenzung funktioniert nur an der Oberfläche. Energien lassen sich nicht zerstören. Wo sie als unerwünscht weggeschickt werden, entfalten sie im Untergrund ein dynamisches Eigenleben und finden Wege, durch Hintereingänge unserer Psyche wieder reinzuschleichen. Das Verdrängte kehrt als Nachtgespenst zurück, als Heimsuchung.... Unterdrückte Wut kann dann zur eigenen Zerstörung führen.
Der eigene Stachel...
Selbstverletzung ist Frauenthema. Doch manchmal ist die Zensur der urteilenden Ratio so lückendicht, dass nur die Nacht mit ihren Träumen Tore öffnet, durch die das Unbewusste zu uns sprechen kann. Oder unser Körper wird ihr Sprachrohr. Oder unsere Energien suchen sich Schauspieler im Aussen, die uns als Stellvertreter möglichst krass, aber meist verzerrt, vor Augen halten, was wir selber in uns selbst nicht wahrhaben wollen, so dass wir es endlich sehen mögen!
Die Psychologie nennt das Projektion. Im Waage-Artikel war davon die Rede, wie uns die Aussenwelt Wahrheit vorhalten kann. Unserem Tagesbewusstsein mögen die verdrängten Kräfte unbekannt sein, aber im Horoskop sind sie als unsere eigenen Anteile sichtbar. Es ist ein Spiegel, der nie lügt.
Trennung der Welt
Skorpion hilft uns, auf den psychologischen Ebenen die Seelentiefen zu erforschen. Aber im grunde geht es um noch viel mehr. Viel tiefer noch führt der Weg, in die kollektiven Schichten der menschlichen Vergangenheit, als die gefeierten Sonnenhelden dem weiblichen Ganzheitsdrachen den Kopf abschlugen und mit ihrem Schwert die Welt in Zwei trennten.
In vielen Kirchen ist das Drama bildlich dargestellt. Die patriarchalen Drachentöter vom babylonischen Marduk bis zum biblischen Michael. Es war die Ur-Sünde, die Teilung der Welt. Die Verbindung von Himmel und Erde wurde zerstört. Ganzheit wurde zerstückelt in chaotische Vielheit. Siehe heute. Surfen in der Unendlichkeit des Internets. Für jede Disziplin eine unübersichtliche Schar von Spezialisten.
Die Welt wird analysiert in ihre Einzelteile bis zum geht-nicht-mehr. Für jede Frage zahllose Antworten. Wir werden überschwemmt von der Vielzahl aller Angebote. Viele verlieren sich darin hoffnungslos. Wir suchen Halt und werden verführbar für scheinbare Sicherheiten. Angst macht uns manipulierbar für die Versprechen der Machtträger. Beherrscht von den Fliehkräften dieser rasenden Bewegung, haben wir jede Orientierung verloren. Isolation und Einsamkeit suchen uns heim. Ver-zwei-flung herrscht wie ein Fluch auf der veräusserten Erde.
Die Göttin in der Tiefe
Astrologie war schon seit Urzeiten ein Weg spiritueller Orientierung. Sie knüpft die getrennten Fäden wieder zur inneren Verbindung von Himmel und Erde. Oben und Unten bilden eine Einheit. Licht und Schatten sind Ganzheit. Erde als Spiegel der Sterne. Doch als die gewalttätigen Sonnenherrscher die Welt eroberten, zog sich die einstige Göttin der Ganzheit, die immer beide Aspekte umfasste, Trägerin der Urkugel mit den Yin-Yang-Schlangen von hell und dunkel, zurück von der Oberfläche und ging in die Tiefe.
Mythologie und Sagenwelt berichten von diesem Drama. Im Bünderland ist es die Geschichte der Margareta, die von den gewinngierigen Menschen der neuen Welt vertrieben wurde. In Griechenland war es Demeter, die von der Erde verschwand, auf der Suche nach ihrer geraubten Tochter. Mit ihrem Weggang versiegte das Leben, Ödnis und Wüste verbreiteten sich.
Der Schatz in der Höhle
Das Endprodukt der patriarchalen Entwicklung ist eine Welt, die ihre Mutter verloren hat und nur noch aus leerer Materie besteht, seelenlos. Auf diesem Terrain führt sich die reine Vernunft selber ad absurdum. Welchen Sinn hat es noch, auf so einer Welt leben zu sollen? Skorpion führt uns zu den tiefsten Fragen unseres Seins, in die Abgründe unseres Innern, unter die Oberfläche des rationalen Verstandes.
Pluto, Planet dieses Zeichens, war nicht immer ein frauenraubender Unterweltgott. Ursprünglich war es der Reichtum in der Tiefe. In Märchen und Sagen ist es der Goldschatz in der Höhle. Es braucht Mut, ihn zu finden, denn auf dem Weg durch die Dunkelheit fühlen wir uns oft ganz allein. Und doch ist es der einzige Weg, der uns weiterführt zum Ziel.
Wiederauferstehung der Göttin
In der entseelten Veräusserlichung der Welt suchen wir Sinn und finden ihn nicht. Erlösung können wir erst finden, wenn wir uns wieder nach innen wenden, umkehren, den goldenen Schatz in der Tiefe suchen, das unsichtbare Licht der Seele. Bevor wir aufsteigen können, führt der Weg in die Tiefe, in die Krypta der Kathedrale, dort ist das Geheimnis des Lebens verborgen. „Esoterisch“ bedeutet verborgen, die innewohnende Wahrheit, die dem äusseren Auge verhüllt ist.
Die alten Mysterienschulen verbargen das alte Wissen aus gutem Grund, denn klerikale und weltliche Machtträger verfolgten die verbotene Weisheit oft mit Todesstrafe. Die Dynamik dieses Prozesses ist in den aufeinanderfolgenden Zeichen Skorpion und Schütze symbolisiert. In der Bildersprache werden sie oft als Einheit dargestellt, wobei jedoch das Lichtzeichen Schütze sein eigenes dunkles Hinterteil zu erschiessen versucht. Vergangenheit wird geleugnet, das ist historisch bekannt. Doch heute bricht eine neue Zeit an, wo altes Wissen wieder offenbar wird.
Wo in ganz tiefen Schichten verborgen die matriarchale Weisheit der Menschen lagert, öffnen sich jetzt Zugänge in lange verschüttete Brunnen. Die Göttin kommt zurück aus dem Exil, sie aufersteht aus dem Bewusstseinsdunkel der gewaltsamen kollektiven Verdrängung. Sie ist wie der Vogel Phönix, der sich aus seiner eigenen Asche beflügelt neu erhebt. Erleuchtung anderer Art wartet auf uns. Die Zeit der patriarchalen Sonnengötter geht zu Ende.
Hinter dem Schleier
Skorpion lässt uns hinter die Schleier der Tageswelt schauen. Es ist der Eingang ins Erdinnere, wo unter der Oberfläche unterirdische Wasserströme rauschen. Warst du schon einmal in den Höllgrotten von Vallorbe? Skorpion pur! Wir Heutigen haben ja keine Ahnung mehr von den Energien, die tief unter uns so mächtig strömen! Die Menschen früher wussten noch darum.
Ihre sakralen Stätten waren an solchen Orten erbaut. Orte der Kraft. Aber nicht für leichtfertigen Umgang. Im schamanischen Weltbild sind Skorpion-Orte Zugänge zur unteren Welt. In allen Märchen sind sie zu finden, z.B. im Brunnen der Frau Holle, die später zur Hölle verteufelt wurde.
Gefürchtete Ganzheit
In einer geteilten Welt ist Ganzheit bedrohlich. Darum können wir allerorten beobachten, von Politik bis Kirche, wie uns weisgemacht werden soll, wo die alleinige Wahrheit sitzt, die fundamental alles andere ausgrenzt. Es sind die gleichen Prozesse wie zur Zeit der Inquisition, wo Teufel im Namen Gottes ihre Schatten auf Hexen projizierten und diese mit Folter und Gewalt von der Oberfläche der Erde tilgten.
Das sind die skorpionischen Folgen, wo Trennung und Verdrängung in ihre Extreme getrieben werden. In jedem Krieg findet das statt. Die Tötung des Feindes. Sonnenheld bekämpft Nachtschlange. Es ist dasselbe Muster.
Schlange des Heils
Die Ver-zwei-felten aber suchen Heilung. In der Krise führt Skorpion sie in die Tiefe. Lässt sie ihren eigenen Leichen im Keller begegnen, ihren eigenen Dämonen, und lässt sie dort, im Dunkel, ihre Schätze finden. Heilung geschieht, wenn wir unsere Ganzheit wieder suchen. Skorpion im ursprünglichen Sinne war die Schlange der Heilung, so wie sie noch heute am Asklepios-Stab des Apotheken-Signets zu sehen ist.
Es ist die Schlange am Paradiesbaum, die Adam und Eva zur Heiligen Hochzeit „verführte“. Es ist der Drache, der die Axis Mundi hütet, die Grosse Verbindung von Unten und Oben im Kosmos.
Es ist die Schlange am Stab, die spiralig die Polaritäten verbindet. Einst war sie das heilige Tier der Göttin, ganz in ihren Händen, so wie es in der uralten Bildersprache noch auf der ganzen Welt zu finden ist. Es ist die schwarze Madonna, die Heilung schenkt. Nutzen wir die Zeitqualität jetzt, um sie anzurufen! z.B. bei einem Ritual in der Schwarzmondnacht, an einem ihrer heiligen Orte (Kloster Einsiedeln) oder indem wir selber uns einen sakralen Platz schaffen.
Allerseelen: Verbindung der Welten
Die patriarchale Sonnenverherrlichung hat uns blind gemacht für die Dimensionen der spirituellen Welten. Skorpion und Schlange wollen uns wieder hinter die Begrenzungen der äusseren Tageswelt führen, damit wir die Augen öffnen für die Wahrheiten dahinter. Wo immer die Schlange auftaucht, will sie Verbindung schaffen zwischen den Welten von sichtbar und unsichtbar.
Allerheiligen/Allerseelen ist noch ein Erinnerungsbrauch im Jahreskreis an die Verbindung mit den „Toten“. Skorpion ist ein Wasserzeichen, und Wasser ist das Element, das Verbindung schafft zwischen Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Quelle und Meer, Eis und Dampf, fest und gasförmig, Materie und Geist.
Nackte Wahrheit
Wer die Geheimnisse der Schlange fürchtet, wird sich angstvoll an die scheinbaren Sicherheiten der materiell-äusserlichen Welt klammern und alles rational nicht Fassbare abwehren. Solche Kontrollversuche enden früher oder später im Zusammenbruch der aufgeschichteten Mauern.
Was dann bleibt, ist oft nur noch Trümmerhaufen. Wenn das Schicksal uns Zerstörung bringt, will es uns klarmachen, wie vergänglich alle äussere Hülle ist. So wie die sumerische Göttin Inanna auf ihrem Weg in die Unterwelt Schicht um Schicht ihrer Äusserlichkeit ablegt, bis sie ganz unten war, ganz innen, bei ihrer „Schwester“ Ereshkigal, der Göttin der Unterwelt, die in Wahrheit ihr eigenes „alter ego“ ist, ihre innere Seele, vor welcher sie nun ganz nackt steht, sozusagen als nackte Wahrheit, nichts mehr zu verstecken.
Durch sieben Tore geht sie hindurch, bis sie zu ihrer Essenz gelangt. Enthüllung ist ein Prozess, so wie die Häutung der Schlange. Skorpion macht da keine Kompromisse. Ganz oder gar nicht. Hier ist Wahrhaftigkeit verlangt, die Aufdeckung der innersten Motive.
Achtung Gefahr!
Wie überall im Tierkreis, lauern aber auch beim Skorpion Gefahren. Als klassisches Mars-Zeichen kann er schnell, in patriarchal-männlicher Einseitigkeit, in destruktive Extreme verfallen. Wenn er sich abtrennt von der Verbindung zu seinem Gegenpol, dem Venus-Zeichen Stier, wird er zum Zeichen der Zerstörung, das nur noch niederreisst.
Letztlich wird er sich selber zerstören, wenn er nicht rechtzeitig erkennt, wann die Grenzen seines Tuns gekommen sind. Wenn er aus der Ganzheit gefallen ist, führt er zu den bekannten Zerrformen von Vergewaltigung, Ausbeutung der Ressourcen der Erde, Vernichtung des Lebens ohne Möglichkeit der Regeneration. Skorpion ist die Kraft des Abbaus, Stier die Kraft des Aufbaus.
Die Skorpion-Energie unterstützt uns beim Entgiften, Reinigen, Ausmisten, Fasten. Doch sie braucht weise Grenzen. Sie will dosiert eingesetzt werden. Sie ist wie das Skalpell in der Hand der Ärztin: sie kann wohlgekonnt verletzen und gleichzeitig der Wunde zur Heilung helfen. Der Einsatz von Messern erfordert grosse Weisheit, wenn sie dem Leben dienen sollen! Andernfalls richten sie irreversible Zerstörung an.
Fallen des Skorpion
Der aus dem Gleichgewicht gefallene Skorpion kennt keine Grenzen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er dringt gewaltsam in verschlossene Räume, plündert sie aus und zerrt Dinge ans Licht, für welche die Zeit noch nicht gekommen ist. In Märchen und Sagen hören wir, dass innere Orte nur betreten werden dürfen zur rechten Zeit (das zugewachsene Schloss von Dornröschen). Oder es braucht die erforderlichen Zauberworte, damit das magische Tor im Fels sich öffnet und den Weg ins heilige Innere freigibt.
Ob es um die Erforschung von Höhlen geht oder um verborgene seelische Innenräume, immer ist es wesentlich, mit welcher Absicht die Grenze überschritten wird. Gewalt, Gier und Egoismus sind nicht der Weg, mit dem sich die inneren Goldschätze erringen lassen. Ohne Respekt vor den intimen Räumen, den eigenen wie den fremden, kann aus solchen Unternehmen ein Desaster werden. Schmal ist der Weg zwischen heldenhaftem Mut und blinder Selbstüberschätzung. Im Feuer seiner Leidenschaft kann Skorpion sich selber verzehren.
Doch solche Selbstopfer sind kritisch zu hinterfragen. Welche Motivation treibt sie an?
Liebe oder (Selbst-) Hass? Gewinnsucht, Rache oder Hingabe an Höheres? Wenn du starke Skorpionbesetzungen in deinem Horoskop hast, würde ich ein Rendezvous mit deinem Stier sehr empfehlen. Du könntest dir damit unter Umständen die Kosten für Arzt oder Psychiater sparen.
Heirat mit dem Stier
Die patriarchale Mythologie will uns weismachen, dass die heiligen Tiere der Göttin Ungeheuer seien, die mit Gewalt besiegt werden müssten. Hier zeigt sich einmal mehr der „Vater der Lüge“, der die ursprüngliche Heilsgeschichte in ihr Gegenteil verdrehte, um dem Machtparadigma der neuen Herrscher zu dienen. So soll im Zentrum des Labyrinths von Knossos auf Kreta der griechische Nationalheld Theseus den schrecklichen Minotauros getötet haben. Eine Variante des Drachentötermythos. Die Bestie muss getötet werden, angeblich zur Rettung der Jungfrau.
Doch einst war es das Gegenteil, eine Geschichte liebender Vereinigung: die für das Gleichgewicht des Ganzen nötige Verbindung zwischen Mondstierkönig und Göttin-Priesterin im heiligen Steinkreis. Es geht nicht um Kampf, sondern um die Hochzeit von Minos und Ariadne, von Mondmann und Schlangenfrau. So ist es auch im astrologischen Tierkreis: die Gegenpole sollen sich nicht töten, sondern es geht um ihre heilige Wieder-Verbindung (re-ligio), um ihren zyklischen Tanz im Lebensrad.
Sakrale Sexualität
Die Schlange als Symboltier der heilenden Verbindung war die Hüterin der Heiligen Hochzeit. Verbindung der Polaritäten. Kundalini am "Baum" der Lebensspirale. Da ging es nicht nur um Sex, ein bisschen Wochenendtantra oder dergleichen. Die Vereinigung der Körper war gleichsam das Gefährt zur Reise in andere Dimensionen, jenseits der irdischen Schranken. Sexuelle Vereinigung und Eingang in die Unterwelt sind in der Mythologie eng miteinander verbunden. Das Tor zur anderen Seite wird oft als Yoni dargestellt. Skorpion-Schlange weiss um die starken Energien, die erzeugt werden können, wenn Gegenpole sich vereinigen. Mit ihrer Hilfe kann Bewusstseinsveränderung erzeugt werden, die auf höhere Ebenen führt. Letztlich geht es dabei um Vereinigung mit dem Göttlichen. Dieser Weg ist aber nicht billig zu haben.
Es gibt keine Abkürzungen auf dem Weg ins Licht. Eine solche Reise braucht innere Vorbereitung und stellt unsere Absicht vor Prüfungen. Hohe Ziele fordern von uns Opfer, um zu testen, wie ernst wir es meinen mit unserem Ziel. Der schmale Pfad auf den Berg führt durch Schleifen und tiefe Schluchten. Es ist der Weg der Schlange.
Rückschritte und Umwege zur Mitte
Die Schlange zeigt uns unmissverständlich die Weisheiten der matriarchalen Religionen. Sie zeigt uns den zyklisch-spiraligen Entwicklungsweg. Wir Modernen meinen oft genug immer noch, dass Wachstum stets linear zu erfolgen habe, die gerade Linie von A nach B, in stetigem Fortschritt. Wenn wir uns nicht unaufhörlich verbessern und das Ziel nicht auf geradem Weg erreichen, glauben wir versagt zu haben. Doch der Skorpion-Monat zeigt uns die Wahrheit: im Rad des Lebens laufen alle Wege in Wendungen.
Es geht nicht ohne Rückwärtsschritte, sie gehören zum Weg vorwärts. Unsere Anstrengungen im Frühling und Sommer waren deswegen nicht umsonst. Jeder Lebensweg hat seine „Herbst-Schlaufen“, wo es scheinbar rückwärts geht, auch wenn wir uns zuvor noch so sehr um Aufbau bemüht hatten. So wie die Planeten auf ihren Bahnen immer wieder rückläufig werden, brauchen auch wir unsere „Rückwärts-Phasen“. Sie gehören zum Weg, die Um-wege zur Mitte.
Das Labyrinth als Schlangenweg
Das Labyrinth in der Kathedrale von Chartres lässt uns symbolhaft den Spiral-Weg unseres Lebens erfahren. Es liegt wie eine aufgerollte Schlange im Sexualchakra der Kirche. Ziel ist das Zentrum in der Mitte. Früher war dort die Minotaurus-Szene auf einer Kupferplatte dargestellt. Der schmale Pfad dorthin führt durch Kurven, enge Wendungen, alles wieder zurück bis fast an den Anfang. Der Schlangenweg ist die Suche nach dem heiligen Gral. Er ist nicht einfach.
Manchen von uns packt die Verzweiflung, wenn es nach langen Jahren der Bemühung so erscheint, als ob wir wieder gleich weit wären wie am Anfang. Keinen Meter weiter gekommen. Doch es ist nicht so. Geh einmal das Labyrinth, und du wirst seine persönliche Botschaft für deinen Weg erfahren. Lass dir von Ariadne den roten Faden geben und folge ihm vertrauensvoll, Schritt um Schritt. Dann findest du die Lösung aus der Verwirrung.
Sophia die Weisheit
Die Kathedrale von Chartres ist „Notre Dame“ geweiht, der Grossen Mutter. Sie gilt als die „Hagia Sophia“ des Westens, gleichsam die in Stein verkörperte Sophia, die Weisheit der Göttin der Ganzheit. Sie war die ursprüngliche Schlangenträgerin. Die Energie ihres heiligen Raumes ermöglichte den suchenden Menschen, Verbindung zwischen Himmel und Erde zu erfahren, re-ligio im ursprünglichen Sinne. In alter Zeit war die Eule ihr Begleittier (Athene, Lilith), der Vogel der Weisheit, die weis(s)e Schleiereule.
Wer wie sie im Dunkeln sehen kann und dadurch auch die andere Seite erkennt, erlangt Weisheit. Darum sind es solche nachtaktiven oder schwarzen Vögel, die als schamanische Helfertiere der Skorpionenergie dienen. Sie tragen die Botschaften von hüben nach drüben und begleiten uns auf dem Weg zu Ganzheit und Heilung.
Transformation
Heilung ist der heilige Weg zur Mitte. Hinein zur Gralsträgerin mit dem Kelch des Lebens. So wie das Labyrinth seit Urzeiten das Symbol des weiblichen Schosses ist, dieses Ortes der magischen Transformation von Geist in Materie, so ist Skorpion der Weg der Wandlung.
Trans-formation lässt sich verstehen als ein Hindurchgehen durch verschiedene Formen oder als ein Hinübergehen in eine andere Form bzw. jenseits der Form, über die Grenzen. Erinnern wir uns, wie das Element Wasser zwischen den verschiedenen Aggregatzuständen transformiert, d.h. seine Form wandelt. Dieser Prozess lässt sich auf verschiedene Ebenen übertragen: Wie kann aus Blei Gold gemacht werden? Wie wird aus Trauer Freude? Wie kommen wir von der Materie wieder zum Geist? Zurück ins Paradies?
Es ist unsere
innere Verwandlung, die Transformation unserer Gedanken, Gefühle und unseres Bewusstseins, die unser Leben und die ganze Erde (um-)gestalten!
Skorpion zeigt uns, dass dies ein innerer Pfad ist, den wir aber äusserlich gehen müssen. Das Geheimnis des Tierkreis-Schlangenweges ist der Rhythmus von innen und aussen. Für uns veräusserlichte Menschen, die wir unsere Mitte vergessen haben, ist die Skorpion-Botschaft der Innenkehr heute essentiell wichtig: Durch Dunkelheit zum Licht!