"Bis dreizehn bleibt es warm"

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Dreizehn ist meine Zahl - ein Roman von Gotthelfscher Wucht, erschienen im Frühjahr 2011.
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Das Plakat der diesjährigen Literaturtage.

"Die Handlung meiner Geschichte könnte sich auf der ganzen Welt zutragen. Das hat mit dem Napf nichts zu tun. "
Alice Schmid, Autorin und Filmemacherin.

www.aliceschmid.ch

www.literatur.ch

 

An den Solothurner Literaturtagen treffen Lesende auf Schreibende und umgekehrt. An den Lesungen kann man auch erfahren, wie die Autorinnen und Autoren zu ihren Themen kommen. swissinfo.ch fragt nach bei Alice Schmid, die ihren Debut-Roman vorlegt.

 

Etienne Strebel, swissinfo.ch

08:06:2011

 

"Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn. Seit ich zählen kann, zähle ich. Das hilft. Dreizehn ist meine Zahl. So oft haut Mutter mich auf den Rücken. Wenn ich vor Angst Bisi mache, zähle ich auch. Bis dreizehn bleibt es warm, danach wird es kalt zwischen den Beinen. Wenn es dunkel ist, pocht es 13-mal an meine Ohren. Das ist der Tod im Treppenhaus."

So beginnt Alice Schmid ihre Lesung an den Solothurner Literaturtagen, so beginnt ihr Buch.
"Dreizehn ist meine Zahl", der Romanerstling der Filmemacherin, spielt in den 1950er-Jahren in der idyllischen Hügellandschaft des Napf. Das Gebiet liegt zwischen den Kantonen Bern und Luzern. Katholizismus und Protestantismus prallten dort hart aufeinander, wie Schmid treffend beschreibt.

So idyllisch die Gegend dort ist, so hart und zum Teil unmenschlich ist der Alltag der Kinder zu dieser Zeit. Hauptperson und Ich-Figur des Romans ist die neunjährige Lilly.

Ihr Leben ist nicht einfach: Sie leidet unter Inkontinenz, und wegen ihrer Schlaflosigkeit in der Nacht fallen ihr manchmal während des Tages die Augen für einen Sekundenschlaf zu – mit fatalen Folgen.

 

Inzest: "Ich denke, das musste aus mir heraus"

Weiter sind Lilly, aber auch andere in diesem Buch auftretende Kinder, mit Inzest konfrontiert. Wie kommt man auf solch ein Thema?
"Ich denke , das musste aus mir heraus", sagt die Autorin gegenüber swissinfo.ch. "Schon mein erster Film hatte das Thema Kindsmissbrauch. Besonders wichtig war für mich bei diesem Film 'Sag Nein' eben diese Botschaft" erklärt Alice Schmid.

"Es ist nicht einfach, autoritären Menschen gegenüber, die wissen, was sie wollen, den Mut aufzubringen und Nein zu sagen", so Schmid, "auch nicht als Erwachsene".

Kinder müssten das lernen, weil sie oft gar nicht wüssten, dass man auch Nein sagen könne. "Deshalb gibt es Kinderarbeit, deshalb gibt es Kindersoldaten. Kinder wollen einen immer zufriedenstellen. Sie haben dieses Harmoniebedürfnis, sie wollen die Liebe der Mutter. Deshalb sind sie willig und machen alles. Aber wenn sie mal wissen, dass man Nein sagen kann, kann sich einiges ändern", ist Alice Schmid überzeugt.

 

"Ich war zu jung"

Die Autorin setzte sich bereits bevor sie Filmerin wurde mit den Thema Inzest auseinander: "Ich hatte in dem einen Jahr, in dem ich unterrichtete, ein paar Erlebnisse, die mich nicht mehr losliessen."

Da sei ein Mädchen gewesen, das nach dem Unterricht nie nach Hause wollte. "Das hat sich wie an mich geklammert. Und seltsamerweise holte nach der Schule oft der Vater das Mädchen ab. Das hat mich beschäftigt, obwohl ich keine Ahnung hatte, weshalb das so war. Für mich war das einfach merkwürdig."

Weiter war da ein Junge, der geschlagen wurde. "Er hatte blaue Flecken, er sprach nicht, sass einfach da. Und die Eltern kamen nicht an den Elternabend, wollten kein Gespräch. Ich war damals zu jung. Aber ich wusste, da ist etwas Tieferes. Wahrscheinlich war das auch der Grund, dass ich mich später diesem Thema intensiv annahm."

 

"Die Gefühle interpretiert dann der Schauspieler"

Wer nun meint, das Buch sei ein Horror-Roman, täuscht sich. Alice Schmid kombiniert ihre gute Beobachtungsgabe auch mit Witz und einem Gespür für komische Situationen.

"Immer diese Gnagi [Eisbein, Red.]. Auf der gädrigen [zähen] Schwarte sind noch Haare dran. Sie sind weiss, etwas borstig, wie das Haar auf Vaters Arm. Alle mögen Gnagi. Wie ich das heute wieder schaffe, weiss ich auch noch nicht. Einfach chätschen [kauen] und in die Wange schieben, das hat bisher nicht schlecht geklappt", schreibt sie.

Alice Schmid hat schon einige Drehbücher verfasst, nach entsprechenden Kursen in den USA . Der Unterschied zwischen einem Drehbuch und einem Roman sei riesig, erzählt sie.

"Ein Drehbuch ist einfach knallhart Handlung. Jeder Satz ist die Handlung im Film. Die Gefühle interpretiert dann der Schauspieler." Beim Romanschreiben konnte sie nun auch Gefühle reinbringen. "Ich habe zwar nicht geschrieben 'Jetzt hat sie Angst'. Ich habe versucht, diese Gefühle zu umschreiben, natürlich auch in Handlungen. So was hätte ich bei einem Drehbuch nie machen können." Und damit hat sie Erfolg: Die meisten geben das Buch erst wieder nach dem Lesen der letzten Seite aus der Hand.

 

Voller Klüfte

Es fällt auf, dass die Autorin in ihrem Text keine direkte Wertung der Zustände vornimmt – auch wenn sie noch so empörend sind. "Das habe ich bei den Amerikanern gelernt: Keine Erklärungen, keine Anklage. Das liest man nicht gern. Die Leser müssen das selbst spüren, da will ich etwas auslösen", sagt Schmid.

Sie hat das Napf-Gebiet nicht zum Mittelpunkt ihres Romans gemacht, weil dort besonders viele Kindsmisshandlungen vorgekommen sein sollen: "Der Ort hat mich fasziniert. Ich wollte die Geschichte dort ansiedeln, weil er auch voller Klüfte ist. Und das ist beim Schreiben ja auch so. Es muss mal hoch gehen und dann wieder runter und dann wieder hoch. Das Schreiben ist wie eine Hügellandschaft. Die Handlung meiner Geschichte könnte sich auf der ganzen Welt zutragen. Das hat mit dem Napf nichts zu tun."


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