Seine Todessehnsucht wurde immer stärker

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Immer mehr Menschen wollen selber bestimmen, wann es Zeit für den letzten (Blumen-)Gruss ist. Bilder: Helen Baur-Rigendinger
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Jeder Suizid ist mit viel Verzweiflung und Not verbunden.

"Ein Suizid hat meiner Ansicht nach weder mit Mut noch Feigheit etwas zu tun. Der Druck auf einen depressiven Menschen wird dermassen gross, dass er keinen anderen Weg mehr sieht."

Vreni Britt

Warum wollte er nicht mehr leben? Eine Frage, auf die Vreni Britt aus Wangs auch zehn Jahre nach dem Suizid ihres Mannes keine Antwort findet. Ein gutes Beziehungsnetz und professionelle Betreuung halfen ihr und den Kindern auf dem Weg zurück in den Alltag.

 

Helen Baur-Rigendinger

15:08:2009

 

In der Schweiz sterben jährlich rund 1400 Menschen durch Suizid - das sind fast drei mal mehr als durch Verkehrsunfälle. Dahinter steckt sehr viel Not und Verzweiflung.

 

Vreni Britt, war Ihr Mann und Vater von drei Kindern verzweifelt, als er vor zehn Jahren seinem Leben gewaltsam ein Ende setzte?
Britt: Es war eine riesige Verzweiflung! Aufgrund seiner starken psychischen Erkrankungen wurde gar die Arbeitsstellensuche zu einem grossen Problem. Sein Gefühl, dieser Welt nicht mehr genügen zu können, stand während Jahren im Raum.
Damit einher ging eine Ohnmacht, welche die ganze Familie in Beschlag nahm. Belastend für ihn war auch, dass ich die Ernährerfunktion übernahm und er der Rolle des Miterziehers seiner geliebten Kinder immer weniger gerecht wurde. Die Krankheit, eine so genannte Herbstdepression hat sich schon Jahre zuvor angekündigt. Er mied gemeinsame Aktivitäten und blieb Einladungen fern.

Ein erster Zusammenbruch erfolgte fünf Jahre vor seinem Tod. Die dazumal verschriebenen Medikamente setzte er jedoch schnell wieder ab. Auch fand er es nicht nötig, Hilfe von aussen zu holen. Sechs Monate vor dem Suizid verlor er die Stelle. Obwohl er in ärztlicher Behandlung war und wir aufgrund meiner Initiative die letzte Zeit auch von einem Psychiater begleitet wurden, war die Todessehnsucht grösser.


Einem Suizid gehen oft verstecke Ankündigungen voraus. War das bei Ihnen auch der Fall?
Britt: Gedroht hat er uns nie, jedoch immer wieder Sehnsucht nach dem Tod geäussert. "Ich bin eine Belastung für euch" oder "Ohne mich hättet ihr ein besseres Leben", liess er uns etwa wissen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Hiobsbotschaft Sie erreichte?
Britt: Es war der 1. November. Ein trüber, nasser Sonntag. Ich machte mich früh zur Arbeit auf. Er ging in sichtlich aufgehellter Stimmung mit dem Hund spazieren. Kurz vor zehn Uhr läutete bei mir das Natel. "Der Täti hät sich verschossä", schrie unser Zweitältester laut durchs Telefon. Ich erstarrte, fühlte mich wie nach einer Explosion.
Danach begann ich zu funktionieren. Ich avisierte unseren Hausarzt, der auch unser Nachbar und Freund ist. Danach die Polizei, die bereits informiert war. Schliesslich eine Mitarbeiterin, die meinen Dienst bei der Spitex übernahm. Als ich heim kehrte, waren Polizei und Arzt bereits vor Ort. Seine Frau betreute die Kinder.

"Ich will ihn sehen", war mein einziger Gedanke. Erschreckt hat mich nicht das Bild, sondern die Tatsache, dass er tot ist. Seine Hände, die ich so liebte, würden mich nie mehr halten können. Ich war total schockiert, spürte meinen Körper nicht mehr.

Wie reagierten die Kinder.....
Britt: Ich erinnere mich noch gut, dass sie mit der Nachbarin im oberen Stock in Fotoalben blätterten. Sie befanden sich ebenfalls in einem Schockzustand. Noch heute bin ich dankbar, dass meine Schwägerin die erste Woche bei uns das Szepter übernahm. Dank ihr und der Hilfe von Angehörigen und Bekannten funktionierte unsere Familie weiter.

...und wie erlebten Sie das Dorf?
Britt: Die Betroffenheit war gross. Nicht ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, ausgegrenzt oder gar geächtet zu werden. Selbst Fremde sprachen mich an. Eine Frau brachte beispielsweise einen Zopf. Eine andere ihre Gage, die sie fürs Singen erhalten hatte.
Mir tat es sehr gut, offen über das Geschehene zu reden. Ganz wichtig waren auch die Kinder, die an unserer Türe läuteten und Anteilnahme bekundeten.

Wenn eine geliebte Person "geht", fahren die Gefühle Achterbahn. Haben Sie und die Kinder professionelle Hilfe in Anspruch genommen?
Britt: Trauma-Verarbeitung ist sehr wichtig ist, das wusste ich. Mir war auch klar, dass diese Aufgabe eine aussenstehende Person übernehmen muss. Die Kinder und ich wurden einfühlsam vom Psychiater betreut, der meinen Mann und mich auch kurz vor dem Suizid begleitet hat.

Suizid ist für viele immer noch ein Tabu-Thema. Wie schaffen Sie es, so offen über den Tod Ihres Mannes zu sprechen?
Britt: Ein Suizid hat meiner Ansicht nach weder mit Mut noch Feigheit etwas zu tun. Der Druck auf einen depressiven Menschen wird dermassen gross, dass er keinen anderen Weg mehr sieht. Persönlich litt ich nie unter Schuldgefühlen. Auch das Wort "Selbstmord" habe ich nie in den Mund genommen. "Er hat seinem Leiden ein Ende gesetzt", habe ich klar und wertefrei in der Todesanzeige formuliert.

Wie hilft oder unterstützt man Angehörige von Suizidenten am sinnvollsten?
Britt: Ein Patentrezept gibt es nicht. Ich finde es wichtig, dass man den Mut aufbringt, auf Betroffene zuzugehen. Es braucht nicht viel. "Kann ich etwas für dich tun?", kann eine Frage lauten, die man auch am Telefon stellen kann. Akzeptieren muss man selbstverständlich auch ein Nein.
Es gab unzählige Sachen, die mir gut taten. Die Beileidskarten, die grosse Anteilnahme an der Beerdigung, ein unverhoffter Besuch Wochen später. Trauer kommt und geht - und sie braucht Zeit, viel Zeit. In einer guten Phase habe ich meinen heutigen Lebenspartner kennen gelernt. In einer schlechten meldete ich mich wieder von der Turnerreise ab. Das Heimweh zu meinem Mann, der mir als Vater meiner Kinder immer fehlen wird, war zu gross.

Der Todestag jährt sich in diesen Tagen zum zehnten Mal. Heilt die Zeit Wunden?
Britt: Der Suizid ist Teil unserer Lebensgeschichte. Wenn ich zurück schaue, bleibt nur das Schöne. Wir sprechen in der Familie viel vom "Täti". Wir lachen und erinnern uns gerne an gemeinsam Erlebtes. Und wir besuchen ihn auf dem Grab.

Abschied von einem geliebten Menschen zu nehmen, ist eine riesige Herausforderung. Dass ich die Freude am Leben wieder gefunden habe, führe ich auf mein gutes Beziehungsnetz - allen voran meine Geschwister und mein Lebenspartner - die professionelle Hilfe sowie meine Arbeit bei der Spitex zurück.


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