Gertraud Herzger von Harlessem: Die Künstlerin der Menschenliebe

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Im Tiergarten, 1930. Bilder: Wiki.
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Kinderfrau im Herbst, 1929.

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1942 kam eine Künstlerin an den Bodensee, die lange Zeit der Anerkennung harren musste: Gertraud Herzger von Harlessem. Ihrer Tochter Sabine ist es zu verdanken, dass sie spät gewürdigt wurde und nicht dem Vergessen anheim fiel. Anlass zur Flucht an den Bodensee war der Bombenhagel in ihrer Heimatstadt Bremen, ihrer Geburtsstadt. Aber die Region kannte sie bereits von früheren Besuchen als Ort von mediterranem Flair, bezaubernden Farben und einzigartigen Lichtverhältnissen. Diese Eigenschaften hatten bereits eine ganze Gruppe berühmter Kunstschaffender angezogen. Die politische Entwicklung in Deutschland zwang viele von ihnen, sich eine eher unbeachtete Randlage des Landes zu suchen und die bevorzugte Gegend war die Höri.

 

Evelyn Thriene

30:08:2012

 

Eine Ehe als künstlerische Behinderung

Es ist Gertrauds Schicksal, einen Mann an ihrer Seite zu haben, der sie erheblich in ihrem künstlerischen Schaffen behindert und sie lässt es aus Liebe geschehen. Sie teilt dieses Schicksal mit den Künstlerinnen Grete Kindermann (geb. Krahl) und Ilse Schmitz (geb. Piper).

Alle drei haben Ehemänner, die sich ebenfalls als Künstler verstehen, aber nicht in einer gleichwertig toleranten Beziehung zu ihren Frauen. Im Gegenteil: Die Frauen kümmern sich um die Versorgung der Familie während der materiell schwierigen Jahre und sind ihrer künstlerischen Entwicklung beraubt. Die begabten Kunstfrauen leben Selbstlosigkeit und stellen ihr Potenzial weit hinter das der Männer.


Gertraud verbringt sieben lange Jahre als Akkord-Arbeiterin an Nähmaschinen, bei BERNINA in der Schweiz am Bodensee, damit ihr Mann, Walter Herzger, ungehindert seiner künstlerischen Tätigkeit nachgehen kann. Dieser steht in erheblicher Konkurrenz zu seiner Frau: Der Neid ihres Mannes auf ihre künstlerische Begabung kostet die Nachwelt ein umfangreiches Oeuvre von höchster Qualität. Vielseitigkeit, Intensität und Menschenliebe kennzeichnen das Schaffen von Gertraud Herzger von Harlessem. Aber ihr Können blüht nur im Verborgenen: Sie findet Mittel und Wege, sich dem Verdikt des Mannes zu entziehen und malt heimlich.

Rund 50 Jahre nach ihrer frühen Schaffenszeit tritt sie 1982 erstmals wieder an die Öffentlichkeit. Ohne das Wissen ihres Mannes beteiligt sie sich an Kunstausstellungen auf der Höri.


Die späte Präsenz einer Menschenliebenden

Wenige Jahre bleiben ihr, um aufzuholen, was sie durch die autoritäre Haltung Walter Herzgers vernachlässigen musste. Sein Werk wird heute keineswegs in dem Maße geschätzt wie das seiner Frau Gertraud. Sie ist mit ihren Bildern, Zeichnungen und druckgrafischen Werken zu einer Größe der Bodenseekunst geworden. Der Ausgangspunkt dafür liegt in ihren menschen-betonten Motiven der Nähe und Einfühlung, denen sie ihre ganze Hingabe widmet.


Wir können nur erahnen, was uns entgangen ist. Eine Ausstellung im Hermann-Hesse-Höri-Museum in Gaienhofen entfachte jüngst ein Staunen über Vielfalt, Gefühlsstärke und technische Versiertheit der Künstlerin. Menschen, vor allem Frauenbildnisse, Landschaften, Tiere und Arbeitstätigkeiten umfassen das Spektrum einer Frau, die uns einen Schatz an Erinnerungen an eine Zeit hinterlassen hat, die noch nicht der Schnelllebigkeit anheim gefallen war.


Der Weg zur künstlerischen Persönlichkeit

Elternhaus und Jugendzeit in Bremen in einer Familie mit adeligem niedersächsischen Hintergrund, aufgewachsen in einem gutbürgerlichen Ambiente mit vielen künstlerischen Kontakten, bildet sich Gertraud seit Kindheitstagen auf dem Weg zur Kunst. Sie hat viel Freiheit, die sich auch in sportlicher Betätigung und in einer literarischen und philosophischen Bildung niederschlägt. In jungen Jahren prägt sie vor allem die musisch interessierte Mutter. Der Vater ist stolz auf sie. Nach dem Abitur nimmt sie Zeichenunterricht. Die Kunst ihrer Zeit kann sie mit Leichtigkeit aufnehmen. Ihre Studien führen sie über Berlin – mit seinen zeitgenössischen Kunstanregungen und einer Ausbildung bei Johannes Itten mit dem Ziel der künstlerischen Selbstfindung innerhalb eines ganzheitlichen Lebenskonzeptes – zur Halleschen Kunstgewerbeschule auf Burg Giebichenstein. Hier bildet sich ein neuer malerischer Duktus heraus. Auch Lithographien entstehen.

Die neue künstlerische Heimat, die Malklasse von Erwin Hahs, schult ihr Einfühlungsvermögen in Inhalt, Form und Farbe und bringt ihr junges Talent zur Geltung. Weltwirtschaftskrise und die Machtgewinnung der Nazis beenden eine glückliche Zeit. Jedoch ist bereits eine ungeheure Produktivität vorhanden: Strichätzungen, Kaltnadelradierungen, Farbholzschnitte. 1932 verlässt sie die Burg. Sie geht als selbständige Künstlerpersönlichkeit.


Das Weibliche in der Kunst als Spiegel ihrer Erfahrung

Bedauerlicherweise gibt sie früh ihrer Unsicherheit gegenüber dem späteren Ehemann Walter nach und verfolgt die Linie der Lithographien nicht weiter, eine Ausdrucksform, die ihr Talent besonders zum Vorschein bringt. Bei ihren Bildern in Öl und Aquarell lässt sie sich von ihren Gefühlen leiten. Selbstporträts offenbaren eine selbstkritische Haltung. Ihre ambivalente Erfahrung des weiblichen Lebens findet sich auch in vielen Frauenbildnissen. Sie sind nicht Ausdruck von Lebenslust und Fülle, sondern von einem tiefen Gezeichnetsein, der Melancholie und Demut. Hier findet die Malerin ihre ganz eigene Bildsprache.


Dresden und der Bodensee liefern tiefe Anreize für ihre künstlerischen Ambitionen. Aber das Berufsverbot in Nazi-Deutschland zwingt sie zunächst zu einem Broterwerb. Sie erlangt in Bremen bald eine Tätigkeit im Ausstellungswesen. Sie reist dem nach Italien geflohenen Walter nach und lernt italienische Kunstschätze kennen. Je mehr die beiden zusammen sind, um so stärker tritt die künstlerische Unterdrückung seitens des Mannes hervor. Zu Gunsten ihrer Ehe und ihres ersten Kindes soll sie die Malerei ganz aufgeben.


Die Malerin als Erzählerin

Erhalten ist uns ihr einfühlsamer Gestus, Eindrücke von typischen Landschaftsgegebenheiten und eine Prägung ihres Ausdruckswillens in Seelenbildern, mehr als realistischer Kopie.

Gertraud Herzger von Harlessems Bilder sind wie Erzählungen. Ihre eigene Geschichte über Leben und Werk zu erzählen sollte uns das Gedenken an sie wert sein. Ihr Todestag am 24. Juli – sie starb 1989 in einer Klinik in Überlingen – erinnert uns an Begabung, Intensität und Meisterschaft. Sie schenkte uns kreative Vielfalt wie Empfindungsreichtum, die bis heute an Bedeutung nichts verloren haben.


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