Vera Hemm: Im Zeichen der roten Nelke

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Buchcover.
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Geradlinig, kompetent und engagiert - die Konstanzerin Vera Hemm.

Vera Hemm, „Im Zeichen der roten Nelke. Mutter und Tochter – Zwei politisch engagierte Frauen im 20. Jahrhundert.“

 

Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn, 2002.

Vera Hemm ist eine geradlinige und ausdauernde Frau. Die Konstanzerin ist vom Leben ihrer Mutter Johanna geprägt, Kommunistin, Gewerkschaftssekretärin, Stadträtin. Ihr eigener Lebensweg ist kämpferisch in ihrem Engagement als Gewerkschafterin, Betriebsrätin und Mitbegründerin einer seit über 30 Jahren aktiven Frauenkulturgruppe. Ihre Gewerkschaftsfrauen begleiten den Internationalen Frauentag (8. März) mit ihrem Kabarett durch politisch-weiblichen Humor. Aus der Regionalgeschichte ist ihre Autobiographie „Im Zeichen der roten Nelke“ nicht wegzudenken.

 

Evelyn Thriene

01:03:2013

 

1935 geboren wird Vera Hemms Lebensgeschichte zum Zeitdokument einer Epoche, die weit entfernt ist von den Segnungen unserer Gegenwart. In ihrer Kindheit gilt die alte Ordnung: Mädchen spielen mit Puppen. Zunächst von Verwandten betreut, da die Mutter berufstätig ist, ändert dies die Heimarbeit der Mutter. Vera besticht als braves Kind. Die Zeiten sind nicht zum Verwöhnen geeignet, fürsorgliche weibliche Verwandte sind jedoch um ihr Wohlergehen bemüht.

 

Die närrische Fastnachtszeit ist eine Hoch-Zeit für die kleine Vera. In jungen Jahren zur Wahl-„Paradieslerin“ (Stadtteil Paradies in Konstanz) geworden, wird sie mit bäuerlicher Lebensweise vertraut und hat durch die Versorgung der Familie mit Kartoffeln und Gemüse Glück in kargen Zeiten. Es ist die Ära der Tante-Emma-Läden und einer einfachen Lebensweise.

 

Das Telefon im nahen Gasthaus gibt es nur für Notfälle. In jenen Jahren heißen die unverheirateten Lehrerinnen noch „Fräulein“ und die Mädchen tragen über den Kleidern eine Schürze. Die Eltern wissen einen Beitritt zu den nationalsozialistischen „Jungmädel“ zu verhindern.

 

Junge Jahre: Faschismus und Krieg überleben

Dass die Eltern gegen Hitler sind, erfährt das Mädchen Vera erst viel später. Das Wichtigste fürs Einzelkind sind die Freundinnen. Und der See wird zum Anziehungspunkt für Bade- und Vergnügungsnachmittage. Draußen in den Straßen spielen ist noch möglich. Katholische Feiertage bieten Abwechslung im Schulalltag. Das Klavierspielen setzt einen glücklichen Akzent. Wohltuend für Vera ist die frühe Rückkehr des Vaters aus dem Kriegsgeschehen.

Aber ein Cousin stirbt im Krieg. Konstanz wird von der Verdunkelungspflicht teilweise verschont. Fliegeralarm bleibt aber nicht aus. Vera reagiert mit Angst und fürchtet bis heute Sirenengeheul. Kartoffeln, Ziegenmilch, rationiertes Brot: Im Krieg heißt es durchkommen, ohne bäuerliche Kontakte kaum möglich. Die Eltern zeigen immer mehr ihre unterschiedlichen Seiten, die Mutter eher kämpferische, der Vater musische.

Der Verlobte einer zugezogenen Cousine wird beim Fluchtversuch in die Schweiz erschossen. Ausgebombte und Flüchtlinge kommen an den Bodensee. Nach dem Kriegsende Ausgangsbeschränkung und Reiseverbot. Der Vater arbeitet selbständig als Schneider, die Verständigung mit der französischen Besatzung ist jedoch schwierig. In der elterlichen Wohnung erscheint kommunistischer Besuch.

 

Den Neuanfang gestalten – das prägende Vorbild der Mutter

Nach dem Krieg wird im SÜDKURIER aufgrund von Parteienparität ein Vera gut bekannter Kommunist beschäftigt. Es ist eine Zeit der Suche nach dem Neuanfang. Der Antikommunismus im Westen fordert jedoch bald seinen Tribut. Vera lebt fast ein Dreiviertel Jahr bei ihrer fröhlichen Tante Claire in St. Gallen, in einem reinen Frauenhaushalt – dank einer schweizerischen Aktion der „Aufpäppelung“ für kriegsgeschwächten Nachwuchs – und wird mit Schwyzerdütsch zum „St. Galler Maideli“. Religion, Kirche und gute Schulleistungen sind für das Mädchen wichtig. Inzwischen wird die Mutter Stadträtin in Konstanz.

Eine intensiv erlebte Jugend mit Verbundenheit zu den „Naturfreunden“, die der ArbeiterInnenbewegung nahestehen, bietet ein stabiles Fundament für Veras Erwachsenenleben. Die Entscheidung fällt nach dem Abitur auf den Beruf der Laborantin. Die unsichere Lage der Mutter als kommunistische Politikerin erlaubt kein Studium der Tochter. Doch die Mutter, eine starke Persönlichkeit, lebt für die damalige Zeit ein ungewöhnliches Frauenleben: Politisches Engagement bedeutet wenig zu Hause zu sein, sehr zum Leidwesen des Ehemannes, der aber ihre Einstellung unterstützt.

Nach dem Tod des Vaters sind Mutter und Tochter unzertrennlich. Veras Leben prägt ab 1962 die Arbeit bei „Byk Gulden“, zur ALTANA AG gehörend, ein Unternehmen mehrheitlich in Besitz der Familie Quandt (später Nycomed, heute Takeda). Vera fühlt sich menschlich und beruflich wohl. 12 Jahre lang ist sie kritische Betriebsrätin. Ihre berufliche Tätigkeit wird mit der Zeit differenzierter, ihre Auftritte bei Fastnachtsveranstaltungen umfassender. Die Menschen werden aufmerksam auf ihre Fähigkeit, rhetorisch unterhaltsam zu sein.

 

Die Frauen Hemm – für Gerechtigkeit, Frieden und vor allem für Frauen

Vera lernt im Betrieb noch das ungerechte System mit Leichtlohngruppen kennen, verdeckte Frauenentlohnung. Alle Verbesserungen in ihrem über 30-jährigen Arbeitsleben bei „Byk“ werden durch gewerkschaftlichen Einsatz erreicht. Veras Motto: „Nichts tut sich von allein!“

Die jahrzehntelang unermüdliche Mutter steht ihr vor Augen. Sogar bei Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Jahr 1949 ist Johanna schon mit von der Partie. Sie prägt die Frauenarbeit im DGB mit. In der Bevölkerung ist sie wohlgeachtet als Mitglied der KPD bis zum Parteiverbot. Johanna lässt sich nie daran hindern, ihrer Einstellung treu zu bleiben.

 

Diese Geradlinigkeit setzt die Tochter fort. Seit 1955 ist Vera in der IG Chemie organisiert und mit der Konstanzer Gewerkschaftsjugend verbunden. Mit 21 trägt sie bereits das 1. Mai-Transparent „Für soziale Gerechtigkeit“. Sie fühlt sich zu Friedensthemen hingezogen und dem „Kampf gegen den Atomtod“. Gesprächskreise mit politisch wachen Persönlichkeiten der Region vertiefen Wissen und Wunsch fürs Engagement.

Sie wird beständiger Teil der Ostermarsch-Bewegung. Hauptanliegen ist Abrüstung in Ost und West, entschiedenes Ziel der „roten Vera“. Ausschnitt aus einer Ostermarsch-Rede von 1982:

 

„Wettrüsten trifft auch speziell uns Frauen.Ich meine damit die Diskussion um die Einbeziehung der Frauen in die Bundeswehr. Für mich ist dies nichts weiter als eine weitere Militarisierung der Gesellschaft. Man will die Frauen mit der Behauptung zum Dienst in der Bundeswehr gewinnen, militärischer Frauendienst sei ein Schritt zur Gleichberechtigung. Da muss ich energisch widersprechen. Die Vorstellung durch Militärdienst erhielten Frauen mehr Einfluss und Zugang zu einem wichtigen, bisher den Männern vorbehaltenen Machtbereich, ist eine Täuschung. Niemand wird zum Militär eingezogen, damit er dort politische Entscheidungen treffen kann ...“.

 

Veras Leben erhält neue Intensität mit der Bindung zu „Jonny“ (Rosalinde), durch innigen Austausch, gemeinsame Reisen und tiefe Verbundenheit. Krankheit und Tod der geliebten Freundin bringen den zweiten Schicksalsschlag nach dem Tod der Mutter.

 

Ein Leben im Zeichen der roten Nelke 

Die gewerkschaftliche Frauenarbeit im DGB ist untrennbar mit Veras Namen verbunden. Sie ist über Jahrzehnte ein starker und oft lautstarker Arm der Frauenbewegung. Und eine Generation nach der anderen erfreut sich an der DGB-Frauenkultur. Heute ist Vera Stadträtin der Linken Liste Konstanz. Sieben Jahre lang hat sie recherchiert und ihr Buch geschrieben – Zeitgeschichte und Spiegel der politischen Entwicklung. Ihrer Mutter, einer aufrechten Frau in allen Zeitläuften, hat sie ein Denkmal gesetzt. Ihr eigenes Leben beweist: Politik ohne Frauenanliegen ist halbherzig. Auf weiblichen Schultern wiegen die Verhältnisse doppelt schwer – Frauen werden gebraucht, um eine Gesellschaft gerecht zu entwerfen und zu gestalten.


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