Deutschlands kleinstes Eisenbahnunternehmen

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Barbara Pirch führt Deutschlands kleinstes Bahnunternehmen. (Foto:s Rail4U)
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Blick aus Barbara Pirchs Lok.

Ergiebiges Thema für Technikfreaks und ein brillanter Text, erschienen in der Financial Times Deutschland und dort gefunden, wo Sie die Geschichte weiter lesen können.   

Während die Lokführergewerkschaft mal wieder mehr Lohn fordert, hält eine Frau am alten Eisenbahnerethos fest: Barbara Pirch transportiert Güter auf eigene Rechnung. Sie arbeitet auf der Lok, sie schläft in der Lok, die Lok ist ihr Zuhause.

 

Matthias Oden, FTD

28:06:2012

 

"Das hier ist meine Lok!"

Kratzer, verdammt hässliche Kratzer. Barbara Pirch steht zwischen den Gleisen, starrt die Lok an und kann es nicht fassen. Über die ganze rechte Flanke zieht sich ein Aderngeflecht fingerdicker Schrunden, in den ozeanblauen Lack von den Ästen gerissen, die gestutzt hätten sein sollen und doch weit ins Gleisbett hineinragen. Eben noch stand Pirch vergnügt hinter dem Führerstand, jetzt greift sie grollend zum Telefon.

"Die Sträucher wachsen hier bis in die Gleismitte", sagt sie, die Stimme ein Fauchen. "Jemand hat die vergessen zu beschneiden." Pirchs Pferdeschwanz wippt ungeduldig, während sie die teilnahmslos genuschelte Antwort der Fahrdienstleitung abwartet, dann bricht es aus ihr heraus. "Ist mir egal, ob da gerade schon einer durchgefahren ist! Klar hat der nichts gemeldet! Der fährt eine Lok, die ihm nicht gehört und die in einem halben Jahr ohnehin verschrottet wird. Das hier ist meine Lok!"

 

Eine Frau, zwei Lokomotiven

Ihre Lok. Rund 7000 Lokomotiven sind in Deutschland in Betrieb, Barbara Pirch gehören zwei davon. Seit 1994 ist das Schienennetz auch für private Unternehmen geöffnet, aber die Bahn bleibt der unangefochtene Platzhirsch. DB - das ist die Kennung, unter der das Netz verwaltet, der überwältigende Teil aller Züge durch Deutschland gefahren wird. Die anderen Anbieter: ein paar Nahverkehrsbetriebe, eine Handvoll Logistikunternehmen mit kleinen Waggonflottillen.

Und dann, unten an der Spitze dieser kopfstehenden Pyramide, ist da noch Barbara Pirch. Allein. Die eine E-Lok hält sie zur Reserve in der Hinterhand, mit der anderen bringt sie für ihre Auftraggeber Güterzüge ans Ziel. Sie arbeitet auf der Lok, sie schläft in der Lok. Die Lok ist, das sagt sie selbst, ihr Zuhause. Pirch ist Deutschlands kleinstes Eisenbahnunternehmen.

 

Unternehmensname: Rail4U

"Was ich mache, würden wahrscheinlich nicht sehr viele machen", sagt sie. Ihr Leben ist eines auf Abruf, ohne Komfort und Planungssicherheit, aber mit langen, einsamen Tagen und harter körperlicher Arbeit. In Ingolstadt hat sie ihr Büro, dort stehen die Loks, wenn sie nicht unterwegs sind. Rail4U nennt sie ihr Unternehmen, denn Pirch kann man mieten. Ein Anruf, und sie ist unterwegs, um für andere Waggons von A nach B zu bringen. Autos, Öl, Holz, Container - völlig egal, Pirch steigt auf ihre Lok und fährt los.

Andere Lokführer mögen streiken oder nicht, sie macht ihren eigenen Fahrplan. Selten weiß sie, was der Tag bringen, wo sie am Ende ihren Schlafsack ausrollen wird, um sich auf dem Boden des Führerhauses schlafen zu legen. Eine Nomadin der Schiene, die Einzige ihrer Art. "Ich mache das, weil ich es will", sagt sie.

 

Übernachten im Führerhaus

Dieses Mal fährt sie Kesselwagen für eine Raffinerie im oberbayerischen Münchsmünster. Spät ist sie am Vorabend in Mannheim eingetroffen und hat dort den leeren Zug in Empfang genommen: 19 dreckstarrende Waggons, abgestellt auf einem einsamen Gleis inmitten der Schienenwüste eines der größten Güterbahnhöfe Europas. Im matten Sternenschimmer ist sie wieder und wieder die dunkle Kolonne abgegangen, rund 320 Meter pro Strecke, und hat die Bremsen überprüft, die Kupplungen gesichert und die Wagenreihung protokolliert.

Die Nacht auf der Isomatte im Führerhaus: kurz, wie so oft. Um 5 Uhr war sie wieder auf den Beinen. Dumpfgrau kam der Morgen, jetzt ist es sonnig, aber kühl, ein Wintertag, der bereits nach Frühling schmeckt. Raureif liegt auf der Welt und hebt sich hier und da in dicken Nebelfeldern. Die Lok fährt durch Weiß. Für Pirch sind es Momente wie dieser, in denen sie für die Härten ihrer Arbeit entlohnt wird: unwirklich, ein Stück weit entrückt, frei. Wenn da nur die Sache mit den Kratzern nicht wäre.

 

123 Tonnen reine Motorenkraft

60 000 Euro hat sie im Sommer für die neue Lackierung ausgegeben. "Mit ist es wichtig, dass ich den Kunden mit einem anständigen Fahrzeug bediene", sagt sie. "Das ist jetzt schon sehr ärgerlich." Die Lok ist Pirchs Arbeitsplatz, ihr Kapital und ihre Visitenkarte zugleich. Manche Aufträge hat sie nur ihretwegen bekommen: weil Pirch auffällt, wenn sie unterwegs ist.

Die Lok, die sie fährt, ist eine E94. Ab 1940 gebaut, um die schweren Güterzüge für den Kriegspartner Italien über die Alpen zu hieven, ist die E94 ein stählernes Monstrum, 6000 PS stark, 123 Tonnen reine Motorkraft. Nach dem Krieg zogen die Loks dieser Baureihe Deutschland in den Aufschwung, und es war in dieser Zeit, dass man ihnen den Namen "Eisenschwein" verpasste.


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